Unserer Reisegruppe zeigte sich Bergen von seiner sonnigen Seite
Der erste Tag diente der allgemeinen Anreise. Ich flog zusammen mit acht weiteren Teilnehmern und einem der Reiseleiter, Daniel Tucman vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung, in Düsseldorf ab. Wir waren alle gespannt darauf, was die Internationale Studienreise Demenz im Krankenhaus wohl bringen würde.
Daniel Tucman vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung in Köln
Als wir in Oslo ankamen, fehlte auf einmal unser Gepäck. Es war fast so, als hätte das jemand absichtlich so arrangiert – sozusagen als kleine Einstimmung auf eine Situation, mit der Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus vermutlich allzu oft zurecht kommen müssen: Sich in einer unbekannten Umgebung orientieren, in der die Menschen eine fremde Sprache sprechen und man ständig das unangenehme Gefühl hat, dass einem etwas ganz wichtiges fehlt.
Die Koffer kamen zum Glück fast alle mit dem nächsten Flieger. Lediglich einer folgte mit etwas Verzögerung und wurde später vom zweiten Teil der Reisegruppe mitgebracht, die aus Frankfurt am Main anreiste. Am Abend stand noch eine Stadtführung mit der gesamten Gruppe auf dem Programm, bei der wir unter anderem die Oper von Oslo (von außen) und den berühmten Vigeland-Skulpturenpark besichtigten.
Am zweiten Tag waren wir im Ullevål-Universitätskrankenhaus zu Gast, das zu den Universitätskliniken Oslo gehört. Dort hörten wir acht Vorträge von Mitarbeitern, außerdem stellte unser zweiter Reiseleiter, Professor Winfried Teschauer von der Ingenium-Stiftung für Menschen mit Demenz, Maßnahmen zur Versorgung von Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus in Deutschland vor.
Winfried Teschauer von der Ingenium-Stiftung für Menschen mit Demenz in Ingolstadt
Guro H. Bjørkløf, Demenz-Expertin vom Nationalen Kompetenzcenter „Aldring og helse“, präsentierte die nationale Demenstrategie. Ziel des „Demensplan 2020“ – vor dem bereits ein „Demensplan 2015“ umgesetzt wurde – ist es unter anderem, die gesellschaftliche Akzeptanz der Erkrankung zu fördern, Demenz und die damit verbundenen Herausforderungen auf die Agenden der Kommunalregerungen zu hieven und langfristig Bedingungen zu schaffen, die den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz und ihren Familien gerecht werden.
Begünstigt wird der Erfolg einer solchen „von oben“ verordneten Strategie freilich dadurch, dass das Gesundheitssystem in Norwegen überwiegend aus Steuermitteln finanziert und für alle Bürger zugänglich ist. Das heißt, Krankenhäuser wie die Universitätsklinik Oslo befinden sich in staatlicher Trägerschaft.
Darüber hinaus haben wir Praxisbeispiele kennengelernt, etwa die interdisziplinären Memory-Teams, denen unter anderem Pflegekräfte und Ergotherapeuten angehören und die eng mit den Hausärzten zusammenarbeiten. Ihr Ziel ist es, Menschen nach der Diagnose Demenz zu begleiten und durch regelmäßige Verlaufskontrollen bei einer Verschlimmerung rechtzeitig für Unterstützung zu sorgen.
Florian Tölle vom Diakovere Krankenhaus in Hannover
„Ich finde es klasse, dass hier multiprofessionelle Teams auf Augenhöhe zusammenarbeiten – das kenne ich aus Deutschland nicht“, sagt Teilnehmer Florian Tölle, der im Diakovere Krankenhaus in Hannover für Pflege- und Organisationsentwicklung zuständig ist.
Dabei erfuhren wir zum Beispiel, dass die Patienten sich auf der angrenzenden Grünfläche gemeinsam mit den Pflegekräften bei der Gartenarbeit einbringen können. Außerdem berichtete die norwegische Fachkraft (die übrigens aus Deutschland stammt), dass ihre Kollegen und sie sehr gute Erfahrungen mit Beschäftigungen wie Häkeln oder Stricken gemacht haben, die sie als Alternative zum Fixieren sehen. Aus deutscher Sicht ein absoluter Luxus: Sind Patienten sehr unruhig und müssen isoliert werden, erhalten diese generell eine Eins-zu-eins-Betreuung durch eine Pflegekraft.
Mareike Schöning vom St. Ansgar Krankenhaus in Höxter
„Gesundheit und Lebensqualität sind das gemeinsame Ziel der norwegischen Fachkräfte und werden nicht als wirtschaftliche Leistung betrachtet. Der Mensch steht im Mittelpunkt“, beschreibt Teilnehmerin Mareike Schöning, Fachkrankenpflegerin auf der Intensivstation des St. Ansgar Krankenhaus in Höxter, ihren Eindruck der Versorgungslage in Norwegen.
Auch der vierte Tag begann sehr früh. Um 8 Uhr startete unser Flugzeug von Stavanger ins etwa 200 Kilometer nördlich gelegene Bergen – Norwegens zweitgrößte Stadt, die uns mit strahlendem Sonnenschein begrüßte. Dieses Mal wurden wir im diakonische Krankenhaus Haraldsplass Diakonale Sykehus empfangen, hörten Präsentationen und besichtigten eine geriatrische Station.
Professorin für Alters- und Pflegeheimmedizin Bettina Husebø
Mich persönlich am meisten beeindruckt hat der rund zweistündige Vortrag von Bettina Husebø, Professorin für Alters- und Pflegeheimmedizin an der Universität Bergen. Seit 20 Jahren lebt und arbeitet sie in Norwegen und gründete 2012 das Centre for Elderly and Nursing Home Medicine (SEFAS) in Bergen, an dem interdisziplinär geforscht wird.
Packend präsentierte uns die gebürtige Deutsche ihre Forschung zur Schmerztherapie bei Menschen mit Demenz. Unter anderem stellte sie uns die unter ihrer Leitung entwickelte Schmerzskala MOBID (Mobilization – Observation – Behaviour – Intensitiy – Dementia, zu Deutsch: Mobilisierung – Beobachtung – Verhalten – Intensität – Demenz ) vor – ein Instrument, mit dem Pflegende bei der Morgenpflege das Schmerzempfinden von Patienten mit schwerer oder moderater Demenz ermitteln können.
Eine Aussage von Professor Husebø zur Versorgung von Menschen mit Demenz im Krankenhaus fasste eine Haltung in Worte, die uns in Norwegen häufiger begegnet ist: „Im Idealfall nimmt man demenziell erkrankte Personen überhaupt nicht im Krankenhaus auf, sondern behandelt sie stattdessen im Pflegeheim. Und wenn es gar nicht anders geht, sollte der Aufenthalt so kurz wie möglich sein.“
Dirk Eickmeyer vom Demenz-Servicezentrum Ostwestfalen-Lippe
Daran knüpft die folgende Aussage des Reiseteilnehmers Dirk Eickmeyer, Referent im Demenz-Servicezentrum Ostwestfalen-Lippe, an: „Das System in Norwegen ist unkomplizierter, bietet dank einer hohen Fachlichkeit außerhalb des Krankenhauses alternative Behandlungsmöglichkeiten und ist damit an sich demenzfreundlicher. Wird ein Krankenhausaufenthalt unvermeidbar, müssen wir uns in Deutschland allerdings nicht verstecken, da haben wir auch hier bereits gute Ideen entwickelt.“
„Gerade nach der heutige Vorstellung einer Memory-Klinik ist mir bewusst geworden, welch großer Wert in Norwegen auf eine längerfristige Weiterbetreuung der Patienten mit einer frischen Demenzdiagnose gelegt wird. Und immer werden die Angehörigen dabei besonders beachtet“, sagte die Teilnehmerin Steffi Wiards, Klinische Neuropsychologin und Demenzbeauftragte im Städtischen Klinikum Lüneburg, nach der Besichtigung.
Am Nachmittag hieß es dann: Abschied und Rückreise nach Deutschland. Nach fünf intensiven Tagen hatten wir alle eine Menge neue und inspirierende Eindrücke im Gepäck sowie vielversprechende Kontakte geknüpft. Meine Mitreisende Dr. med. Kristina Gartzen, Oberärztin in der Geriatrie Haus Berge der Contilia Gruppe in Essen, fasste unsere Erfahrungen meiner Meinung nach sehr treffend zusammen: „Es war sehr bereichernd, die vielen verschiedenen Menschen aus unterschiedlichsten Berufsgruppen zu treffen und die Begeisterung für ihre jeweiligen Tätigkeiten zu spüren. Ich kehre mit ganz vielen Ideen und Plänen nach Hause zurück.“ Nun bleibt abzuwarten, wie die Internationale Studienreise Demenz im Krankenhaus bei Kristina, Florian, Mareike und den anderen nachwirkt – und wie sich das auf die Demenzversorgung in Deutschland auswirkt. Ich bleibe dran.
Weitere Berichte zur Studienreise Demenz im Krankenhaus findet ihr hier:
Tag eins: Studienreise nach Norwegen
Tag zwei: Norwegen hat einen Plan
Tag drei: Häkeln statt fixieren
Tag vier: Schmerztherapie bei Demenz
Tag fünf: Statements der Teilnehmer
Dieser Artikel wurde am 7. Juni 2017 veröffentlicht