Nachdem die beiden Töchter und der Sohn aus dem Haus waren, zog sie in eine kleine Wohnung in Dortmund-Brackel. Viele Jahre klappte alles reibungslos – doch dann häuften sich auf einmal die Missgeschicke. Mehrmals stürzte sie beim Fahrradfahren, weigerte sich aber, einen Helm zu tragen. „Die Frisur“, sagt Hildegard entschuldigend. Als dann auch noch immer öfter das Essen anbrannte, weil sie es auf dem Herd vergaß, traf die Familie eine Entscheidung. Hildegard sollte umziehen, in einen Verbund aus zwei Demenz-Wohngemeinschaften (WGs) in Dortmund-Körne. Die Villa Lioba ist ein Ort, an dem insgesamt 16 Menschen leben, die meisten haben wie Hildegard eine fortgeschrittene Demenz.
Rund ein Jahr ist das jetzt her. Die Eingewöhnungszeit war nicht leicht für die 77-Jährige. Sie hat viel geweint, hatte Heimweh. Das WG-Konzept sieht zwar vor, dass die Bewohner eigene Möbel mitbringen dürfen, aber das meiste passte nicht in Hildegards neues zirka 15-Quadratmeter-Zimmer. „Für die Sachen hat man jahrelang gespart – und dann muss alles weg“, sagt sie bedauernd. Inzwischen hat sich Hildegard eingelebt und ist aus ihrer Wohngemeinschaft nicht mehr wegzudenken. Sie unterstützt die Pflegekräfte, zum Beispiel beim Abschmecken des Essens. „Kochen konnte ich gut“, sagt Hildegard selbstbewusst. „Vor allem Hausmannskost wie Sauerbraten, Rouladen oder Gulasch. Meine Kinder haben immer gerne bei mir gegessen.“
Mit dem selber Essen ist das jedoch so eine Sache. Vor einigen Monaten verlor Hildegard plötzlich an Gewicht, schien kaum noch Appetit zu haben. Hinzu kamen unerklärliche Grimassen und Zuckungen im Gesicht. Zuerst wusste keiner, was los war. Doch dann stellte sich heraus, dass es an ihren Zähnen lag. Die waren kaputt und mussten gezogen werden. „Dabei habe ich sie jeden Tag geputzt“, sagt Hildegard. Praktisch: Ihr Neffe in Hemer ist Zahnarzt und kümmert sich jetzt um sie. Zwar ist die Behandlung noch nicht ganz abgeschlossen, aber Hildegard isst schon wieder etwas besser. „Wenn auch sehr langsam“, wie ihre Mitbewohnerin Margi anmerkt.
Zwischen Hildegard und Margi hat sich in den vergangenen Monaten eine richtige Freundschaft entwickelt. Die beiden sitzen beim Essen nebeneinander, halten sich an den Händen und verbünden sich – wenn es sein muss – gegen einen Mitbewohner, der aus Sicht der beiden Damen viel zu viel redet. Um andere Bewohner kümmert sich Hildegard ebenfalls voller Fürsorge – tröstet sie, wenn sie traurig sind oder redet ihnen gut zu: „Das tut dir gut, mal eine warme Suppe zu essen.“ Abends sitzen einige von ihnen manchmal noch gemeinsam in der Sofaecke. „Da haben wir schon viel Spaß gehabt“, sagt sie.
Hildegards Demenz macht sich in unserem Gespräch kaum bemerkbar. Als ich sie nach ihrem Alter frage, muss ihr jedoch Sohn Martin zur Hilfe kommen, was ihr sichtlich unangenehm ist: „Man ist blamiert, wenn man sein Alter nicht weiß.“ Martin besucht sie regelmäßig zusammen mit seiner Frau Daniela. Die beiden bringen ihr die Sülze mit, die sie so gern isst, hören zu, erzählen. Oft stundenlang. Für Hildegard sind ihre Angehörigen eine wichtige Stütze. „Nachdem das jetzt alles so ist, mit der Demenz, bin ich froh, dass ich mehrere Kinder habe. Da ist man schon gesegnet“, sagt sie. Dieser Beitrag wurde am 11. Juni 2017 veröffentlicht
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1 Kommentar
Danke, Kati für den Bericht und diesen einfühlsamen Mutmacher. Für mich ist das WG-Konzept eine wichtige Säule, um das würdevolle Altern (mit und ohne Demenz) gesellschaftlich zu wuppen. Darüber zu berichten, hilft!