Reportage aus der Demenz-WG: Die Bewohner der Villa Lioba in Dortmund sitzen gemeinsam am Tisch
Für meine Reportage aus der Demenz-WG verbringe ich an drei Tagen jeweils mehrere Stunden in der Villa Lioba, einem Verbund aus zwei Demenz-WGs in Dortmund-Körne. Das Gebäude ist keine echte Villa, sondern das Hochparterre eines Mehrfamilienhauses, das in zwei barrierefreie Wohnungen mit jeweils einem Wohn- und Essbereich, drei Bädern und acht beziehungsweise sieben Schlafzimmern unterteilt ist. Gemeinsame Aktivitäten wie die Obstparty sind etwas Besonderes. Ihren Alltag organisieren die beiden WGs für gewöhnlich unabhängig voneinander. Allerdings können sich die 15 Bewohner innerhalb (und außerhalb) der gesamten Villa Lioba frei bewegen und jederzeit gegenseitig besuchen.
In der Küchenzeile hantieren eine Pflegekraft und eine Bewohnerin geschäftig vor sich hin. Dann ist es so weit: Es gibt Fruchtspieße, bestehend aus Weintrauben, klein geschnittenen Äpfeln, Bananen und Ananas-Stückchen sowie Mäusespeck, dekoriert mit geschmolzener Schokolade. Die meisten meiner Tischnachbarn machen sich sogleich über den bunten Obst-Snack her. Einige bekommen Hilfe von den Pflegerinnen, die ihnen die Fruchtstücke vom Spieß auf den Teller schieben, damit sie selbstständig essen können. Der Mann, der neben mir sitzt, tunkt eine Weintraube in seinen Kaffee, bevor er sie in den Mund steckt. Ich kriege auch zwei Spieße ab. Das schmeckt so lecker und die Idee gefällt mir so gut, dass ich die Spieße später zu Hause nachmache. Das Rezept und mein erstes Fingerfood-Video findet ihr hier.
Als alle genug Obst gegessen haben, wird das Geschirr abgeräumt. Jemand holt eine Mundharmonika und ein Keyboard. Die Instrumente gehören zwei Bewohnerinnen, die darauf für uns spielen. Pflegerin Silvia hat ein Liederbuch. Wir singen und summen gemeinsam zu der Musik, jeder wie er mag und kann. „Im Märzen der Bauer“, „Hoch auf dem gelben Wagen“ und „Der fröhliche Wanderer“ mit dem eingängigen Refrain „Faleri, falera, faleri, falera ha ha ha ha ha“ – mal geht der Impuls von Silvia aus, mal von den Musikantinnen. Im Gegensatz zu mir können viele der Bewohner ganze Strophen auswendig. Manche Lieder singen wir nicht bis zum Ende. Dafür wiederholen wir andere mehrmals. Die richtigen Töne treffen wir dabei nicht immer. Doch das macht uns nichts aus. Es entsteht ein Gefühl von Gemeinschaft, das auch auf mich überspringt.
Lecker Linsensuppe – fachkundig abgeschmeckt von einer Bewohnerin Die Abschmeckerin nimmt ihre Aufgabe sehr ernst. „Es fehlt noch etwas Salz und Essig“, sagt sie. Und später: „Noch mehr Salz oder ein Brühwürfel.“ So ganz geheuer scheint ihr die Verantwortung dann aber doch nicht zu sein. Sie schlägt vor, noch andere probieren zu lassen. Aber davon will Sandra nichts wissen: „Du kannst das. Auf dich kann man sich verlassen.“ In den ersten Monaten nach der Eröffnung der Villa Lioba im September 2015 haben sich Bewohner und Mitarbeiter noch gesiezt. Doch inzwischen sind die meisten zum vertrauten „Du“ übergegangen. Man kennt sich.
Eine Auszubildende, die heute ebenfalls in der WG im Einsatz ist, will dem Mann neben mir das Essen anreichen. Sandra kommt dazu, gibt ihr einen Teelöffel und fordert sie auf, ihm die Linsen damit auf den Esslöffel zu schieben, damit er ihn selbst zum Mund führen kann. „Ach, ich gebe ihm den Esslöffel direkt in die Hand“, erwidert die Auszubildende fürsorglich. „Nein, bitte nicht“, sagt Sandra bestimmt. „Wir machen hier aktivierende Pflege.“
Dahinter steht die Idee, dass pflegebedürftige Menschen alltägliche Handlungen wie die Nahrungsaufnahme so lange wie möglich selbstständig ausführen sollten, um sie nicht zu verlernen. Das gilt auch dann, wenn jemand mit den Fingern isst oder für etwas besonders lange braucht. Dieses Konzept wird jedoch längst nicht im Pflegealltag aller Einrichtungen umgesetzt. Denn abgesehen davon, dass gesellschaftliche Konventionen wie etwa Tischmanieren dadurch außer Kraft gesetzt werden, können langsame Esser den Betrieb in Pflegeheimen aufhalten und die Pflege- oder Präsenzkräfte viel Zeit kosten. Mein Eindruck ist zudem, dass manchen Angehörigen und Pflegebedürftigen nicht bewusst ist, dass derartige Ansätze die Selbstständigkeit erhalten sollen, und sie fälschlicherweise für schlechte Versorgung oder sogar Faulheit der Mitarbeiter halten.
Das Tempo, in dem die Bewohner der Villa Lioba essen, ist äußerst unterschiedlich. Die einen sind schon beim Dessert, während andere noch einen halbvollen Teller Suppe vor sich haben. Eine Frau möchte lieber mit dem Nachtisch weitermachen, obwohl sie ihre Suppe nicht geschafft hat. Sandra sieht das gelassen. „Es ist nicht so wichtig, was sie essen“, erklärt sie der Auszubildenden. „Hauptsache, es wird eine gewisse Struktur eingehalten und alle kommen hier zusammen.“ Leben in Gemeinschaft: Diese Bewohnerinnen der Villa Lioba sind füreinander da Nach dem Essen ziehen sich einige Bewohner zurück, um in ihren Zimmern oder auf den Sofas im gemeinschaftlichen Wohn-Essbereich auszuruhen. Ich bleibe mit zwei Bewohnerinnen am Tisch sitzen. Wenig später bekommen sie Besuch von ihren Angehörigen. Wir unterhalten uns.
Es gibt aber auch erfreulichere Themen. So planen die beiden alten Damen und ihre Angehörigen, bei schönem Wetter in eine Eisdiele zu gehen, und sich ein Eis mit Sahne zu gönnen. Oder zusammen Waffeln zu backen. Alle sind sich einig, dass das WG-Leben viele Vorteile mit sich bringt. Insbesondere die Gesellschaft „Als meine Mutter noch zuhause lebte, haben mein Bruder und ich sie zwar fast jeden Tag besucht, aber sie war trotzdem viel allein“, sagt die Tochter der einen Bewohnerin.
Ein Angehöriger hat seinen Chihuahua mitgebracht – sehr zur Freude einiger Bewohner Ich folge dem Hund durch das Gebäude bis in die WG 1. Auch hier kommt das quirlige Tier gut an. Ich setze mich zu einer Gruppe Bewohner an den Tisch. Eine Frau, die nur gebrochen Deutsch spricht, ist sehr traurig. Sie erzählt von einer Freundschaft, die auseinander gegangen ist, und früheren Erlebnissen, die sie anscheinend noch heute sehr belasten. Auch wenn wir nicht alles verstehen, was sie sagt, versuchen eine ihrer Mitbewohnerinnen und ich sie zu trösten.
Gegen 17 Uhr möchte eine Bewohnerin gern ins Bett gehen. Der Pfleger Benny, der heute Spätdienst hat, überredet sie, damit noch ein bisschen zu warten: „Sonst wachen Sie mitten in der Nacht auf und können nicht mehr schlafen.“ Sie lässt sich überzeugen, bittet ihn jedoch nahezu alle zehn Minuten, sie beim Toilettengang zu unterstützen. Eine andere Frau hat Besuch und spielt mit ihren Angehörigen in der Sofaecke Mensch ärgere dich nicht. Kurz bevor es Abendbrot gibt, steht ein Bewohner in Unterhosen auf der Veranda, klopft an die Glastür und möchte rein. An den Reaktionen der anderen merke ich, dass das nicht zum ersten Mal vorkommt. Für mich wird es Zeit, mich zu verabschieden, was mir gar nicht so leicht fällt. Zwar waren es nur wenige Tage, die ich für meine Reportage aus der Demenz-WG hier zu Gast war. Doch die Bewohner der Villa Lioba sind mir schon ein bisschen ans Herz gewachsen. Aber wer weiß – vielleicht komme ich ja mal wieder. Dieser Beitrag wurde am 7. Mai 2017 veröffentlicht Den Artikel anhören (vorgelesen von Kati)
2 Kommentare
Ich habe den Hinweis auf diese Seite über Instagram erhalten. Ich freue mich sehr über soviel Vielfältigkeit im Netz und besonders über solche Blogs wie diesen.
Weiterhin viel Erfolg ?
Viele Grüße Viola
Liebe Viola,
vielen Dank für deinen Kommentar und dieses tolle Lob. Es freut mich, dass dir der Blog gefällt!
Liebe Grüße
Kati