Porträtfoto von Peter, dem Bewohner einer Demenz-Wohngemeinschaft in Dortmund

Peter ist Bewohner einer Demenz-WG in Dortmund

Demenz-WG

PETER, DER POSTBOTE

„Ich wurde hierher versetzt“ erzählt mir Peter, Bewohner einer Demenz-WG in Dortmund

Dortmund – Samstag, 9.30 Uhr, an einem regnerischen Morgen im März. Ich besuche die Villa Lioba, einen Verbund aus zwei Demenz-Wochngemeinschaften (WGs) in Dortmund-Körne. Als ich mich zu einer Gruppe Bewohner an den Frühstückstisch setze, verlässt mich kurz der Mut. Ob überhaupt jemand mit mir sprechen will? Die meisten dösen vor sich hin, denen ist bestimmt nicht nach reden. Wenn da nicht Peter wäre. Der große, schlanke Herr mit dem vollen weißen Haar auf dem Platz mir gegenüber wirkt kein bisschen müde. Im Gegenteil: Offensichtlich freut er sich über die unbekannte Zuhörerin.

Wir stellen uns vor. „Ich heiße Peter – wie Petrus“, sagt er und wir lachen. Eigentlich habe er bei der Post am Schalter gearbeitet und sei nun hierher versetzt worden, erklärt mir Peter. Früher trug er außerdem Briefe aus – mit dem Fahrrad, versteht sich.

ERINNERUNGEN AN DIE JUGENDZEIT

Die Unterhaltung scheint Erinnerungen an seine Jugendzeit bei Peter zu wecken. Er erzählt von einer Ferienfreizeit mit strengen Nonnen als Aufpasserinnen und wilden Völkerballspielen. Auch um „die Amerikaner“ geht es. „Die hatten immer etwas dabei, und wenn es Zigaretten waren.“ Einmal erwähnt er Fallschirmjäger, die ganz in seiner Nähe landeten. Ich rechne nach. 77 Jahre ist er alt, hat Peter gesagt. Also ist er vermutlich Jahrgang 1940, hat als kleines Kind den Zweiten Weltkrieg und später die Zeit der Besatzung miterlebt. Gut möglich, dass die Eindrücke von damals heute für ihn wieder besonders präsent sind.

Im Hintergrund läuft das Radio. Beim Bericht zum gestrigen 1:0 von Borussia Dortmund gegen Ingolstadt wird Peter hellhörig. „Der Torschütze heißt Aubameyang und kommt aus Frankreich“, klärt er mich auf. „Das ist der Mann, der die Tore macht – aber mit dem Kopf!“ Der brauche sich übers Kleingeld keine Sorgen zu machen.

Peter, der Bewohner einer Demenz-WG in Dortmund zusammen mit einer Pflegerin

Sabine liest aus Wikipedia vor, Peter hört zu

INNIGE BEZIEHUNG ZUR PFLEGEKRAFT

Die Pflegerin Sabine betritt den Raum, entdeckt Peter und begrüßt ihn mit einer herzlichen Umarmung. „Er ist immer ganz hin und weg, wenn ich komme“, sagt sie. Sabine macht eine Ausbildung zur Altenpflegerin im stationären Bereich. Einmal im Monat hilft sie am Wochenende in den WGs aus. „Ich bin wahnsinnig gern hier und genieße es, dass man so individuell arbeiten kann mit den Leuten.“ In der Villa Lioba kümmern sich je nach Tageszeit drei bis vier Pflegekräfte um 15 Bewohner.

Peter beginnt zu zitieren: „Sabine war ein Frauenzimmer, gar hold und tugendhaft – wer hat das noch erfunden?“ „Keine Ahnung, ich frage mal Herrn Google“, sagt Sabine und zückt ihr Handy. Auch Peter schaut interessiert auf das Display.

Sabine liest laut vor, was bei Wikipedia über die Ballade „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ steht. Dann sagt sie: „So, jetzt sind wir beide schlau.“ Peter erwidert anerkennend: „Sie ist nie verlegen um eine Antwort – das kann sie!“

Sabine muss weiter. Peter kommt jetzt so richtig ins Erzählen. Inspiriert vom Radio und dem Fernseher, der hinter meinem Rücken lautlos läuft, spricht er über „Angie“ Merkel und Schulz, seine Schulzeit und sein Engagement als Messdiener. Wer ihm in einem anderen Zusammenhang begegnet, würde vermutlich zunächst nichts von seiner Demenz bemerken. Erst wenn man sich etwas länger mit ihm unterhält, fällt auf, dass seine Sätze teilweise ins Leere laufen. Rasant springt er von einem Thema zum nächsten. Mir dröhnt der Kopf.

FOTOS VON FRÜHER

Ich frage Peter, ob er mir sein Zimmer zeigen will. Er will. Wir gehen durch den Flur und in einen zirka 15 Quadratmeter großen Raum mit zwei Fenstern, Bett, Kommode, zwei Sesseln, Tisch und Fernseher. Überall stehen und hängen Fotos von Peter und seiner Familie. Ein Bild zeigt ihn in jüngeren Jahren, wie er sich fröhlich aus einem Wohnmobil lehnt (siehe Bildergalerie unten). „Mein Lieblingsfahrzeug“, sagt Peter und erzählt, dass das Foto in Bayern aufgenommen wurde und im Hintergrund ein Schloss von König „Lu-de-wig“, wie sie ihn in Süddeutschland  nennen würden, zu sehen ist.

Mein Blick wandert durch das Zimmer, was Peter nicht entgeht. Er glaubt, ich habe zu den Honigbonbons auf der Anrichte geschaut und bietet mir eins an. Ich lehne ab. Als ich ihn frage, ob er eins essen möchte, sagt er: „Ja, Sie können eins rüber werfen.“ Er fängt es geschickt mit einer Hand. „Das konnte ich schon immer.“

Das Gespräch über das Wohnmobil hat scheinbar weitere Erinnerungen in ihm geweckt. Er berichtet von einer Kanadareise, auf der er einen ausgewachsenen Bären, Rehe und Hirsche gesehen hat – „Wahnsinn!“ Das sei was ganz tolles, wenn man die so in freier Wildbahn erlebe. Und das Beste: In seinem Hotel wohnten berühmte Skifahrer. „Einige kannte ich sogar aus dem Fernsehen!“

DIE TÜREN DER WG SIND NIE ABGESCHLOSSEN

Wir gehen nach der Post sehen. Im Flur hängt ein alter Jutesack mit aufgenähten Taschen – von Angehörigen hergestellte Postfächer für die WG-Bewohner. Peter will nach draußen. Er öffnet die Wohnungstür, die niemals abgeschlossen wird. „Unsere Bewohner können gehen, wohin sie möchten. Alles andere wären freiheitsentziehende Maßnahmen“, sagt Ute, die Geschäftsführerin des Pflegedienstes, der die Villa Lioba betreibt. Wenn möglich, versuchen die Mitarbeiter, Bewohner zu begleiten, wenn sie draußen spazieren gehen oder etwas besorgen möchten. Manchmal ziehen die Bewohner aber auch auf eigene Faust los. „Sollten sie nicht wieder nach Hause finden, strömen nach einer Weile alle verfügbaren Mitarbeiter des Pflegedienstes aus, um nach ihnen zu suchen“, so Ute.

Demenz-WG Bewohner Peter bei den Postfächern der Bewohner

Peter zeigt mir die WG-Postfächer

 

Peter ist nach einem Ausflug auch schon allein zurückgekehrt und hat sich dann gewundert, „was die alle für einen Aufstand machten“. Ute fände es gut, wenn Bewohner mit einer sogenannten Lauftendenz eine GPS-Uhr mit Ortungsfunktion bei sich trügen. „Damit hätten sie die Freiheit, sich selbstbestimmt zu bewegen, und wir könnten sie finden, wenn sie sich nicht an den Weg zurück erinnern.“ Aber auch das wird von vielen Gerichten als Eingriff in die Freiheitsrechte bewertet und gilt als ethisch umstritten. In jedem Fall sollten Angehörige oder gesetzliche Betreuer zunächst mit dem zuständigen Amtsgericht Rücksprache halten, wenn sie ein Ortungssystem einsetzen möchten.

DAS TAGESGESCHEHEN IM BLICK

Heute will Peter nicht spazieren gehen. Auf der Veranda liegt eine zusammengerollte Tageszeitung. Er bückt sich behände, hebt sie auf und schimpft: „Der Briefträger ist zu faul, sie in den Briefkasten zu werfen.“ Er wird es wissen, schließlich ist er vom Fach. Gekonnt öffnet er die Schnur, mit der die Rolle zusammengehalten wird, und zeigt mir das Titelbild. Es ist ein Foto von Aubameyang, dem Dortmunder Torschützen, wie ich dank Peter weiß. „Hier, das ist er“, sagt er triumphierend.

Wir gehen zurück in die Wohnküche, wo bereits das Mittagessen zubereitet wird. Während ich mich anderen Bewohnern zuwende, stellt Peter sich zu der kochenden Pflegekraft neben den Herd. Er scherzt und liest ihr Meldungen aus den Dortmunder Nachrichten vor. Sie duzen sich, die Atmosphäre ist vertraut.

Als wir uns wenig später um den Esstisch versammeln, hat Peter Schluckauf. „Da denkt wohl grade jemand an Sie“, sage ich. Und er erwidert selbstbewusst: „Meine ganze Familie denkt an mich.“

Mehr Bilder von Peter gibts hier in der BILDERGALERIE

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2 Kommentare

  1. Dieter Radix sagt:

    Ein toller Aufdatz über meinen Bruder. Ich erlebe ihn ähnlich, wenn ich ihn besuche.
    Leider schreitet seiner Krankheit ziemlich schnell voran. Viele alltägliche, normale Anforderungen, beherrscht er immer weniger.
    Vielen Dank für ihren sehr guten Bericht.
    Dieter Radix, Iserlohn

  2. Kati sagt:

    Lieber Herr Radix,
    vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich habe mich sehr gefreut, Ihren Bruder kennenlernen und über ihn schreiben zu dürfen. Es tut mir leid zu hören, dass sich sein Zustand verschlechtert. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie viel Kraft und alles gute.
    Liebe Grüße von Kati

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