Lissabon, Alfama – Das Kunstprojekt „Almas de Alfama“ heißt übersetzt „Die Seelen der Alfama“. Es zeigt Fotografien alteingesessener BewohnerInnen an den Häuserwänden des Viertels Alfama, einem der ältesten Stadtteile Lissabons. Der Clou: Dort wo sich die Porträts befinden, sind auch die Protagonisten nicht weit.
Eine von ihnen ist Cândida. Keine zwei Meter von ihrem Porträt entfernt sitzt sie in dem Eingang ihres Hauses und verkauft Ginjinha, den typisch portugiesischen Sauerkirschlinkör. Auf die Frage, ob sie das ist auf dem Foto, schenkt sie mir ein strahlendes Lächeln und nickt. Sie erzählt mir, dass an ihrem Portrait zwar stehe, sie wäre 82 Jahre alt, inzwischen sei sie aber schon 83. Sie beschreibt mir genau den Weg zu einem Hinterhof, etwa drei Straßen weiter, in dem sie geboren wurde. Cândida hat ihr gesamtes Leben hier verbracht, kennt jede Ecke und jede/n BewohnerIn des Viertels.
Früher hatte sie eine Arbeit, bei der sie lange stehen musste. „Seit etwa einem Jahr habe ich starke Knieprobleme, deshalb habe ich mir eine neue Beschäftigung gesucht, die ich im Sitzen ausüben kann“, erzählt Cândida. Sie ist glücklich darüber, ein Teil des Kunstprojekts zu sein. Häufig wird sie von Touristen darauf angesprochen, was sie sehr freut und vermutlich auch gut fürs Geschäft ist.
Die Porträts stammen von der britischen Künstlerin Camilla Watson. Neben jedem Foto findet sich ein kurzer Text, der die Verbindung der Person mit dem jeweiligen Ort beschreibt, allerdings nur auf Portugiesisch. Gestartet ist das Projekt 2017 mit 20 Portraits. Diese kamen so gut an, dass viele Einheimische den Wunsch äußerten, ebenfalls in das Kunstprojekt eingebunden zu werden, sodass die Künstlerin 20 weitere Portraits erstellte. Durch das Projekt wird der Stadtteil noch charismatischer und viele Orte erhalten eine persönliche Bedeutung.
Als ich Cândida bitte, mir eine Einverständniserklärung zu unterschreiben, damit ich ein Foto von ihr für diesen Blogeintrag nutzen darf, gesteht sie mir, dass sie nicht schreiben kann: „Ich bin mit fünf Geschwistern groß geworden, wir hatten gute Zeiten, da waren die Bäuche voll, und schlechte Zeiten, da waren die Bäuche leer. Aber Zeit für Schule hatten wir nie“. Doch Cândida weiß sich zu helfen – sie bietet mir an, eine gute Freundin zu rufen, die gleich um die Ecke wohnt. „Sie unterschreibt für mich alle wichtigen Dokumente“, sagt sie.
Ebenfalls ein Urgestein der Alfama, wenn auch kein Teilnehmer des Kunstprojekts, ist Joaquin. Entspannt sitzt er auf seinem Stuhl gegenüber eines kleinen Restaurants und raucht eine Zigarette. Auch er ist in diesem Viertel geboren und hat es nie verlassen. Während ich mit ihm spreche, kommen immer wieder Leute vorbei, die ihn grüßen und ein paar Worte wechseln, bevor sie weiterziehen.
Joaquin ist 75 Jahre alt und genießt seinen Ruhestand. Früher hat er im Krankenhaus gearbeitet, aber jetzt kann er kaum noch laufen. Er beklagt sich bei mir über die vielen steilen Treppen und Stolperfallen in der Stadt. Trotzdem möchte er sein geliebtes Zuhause nicht verlassen. An einen anderen Ort zu ziehen, kann er sich nicht vorstellen. Und so sehr er an seinem Stadtteil hängt, so braucht auch die Alfama ihre SeniorInnen, denn sie sind ein wesentlicher Bestandteil, tragen zum persönlichen Charme dieses Viertels bei und machen es zu etwas ganz Besonderem.
Der Artikel ist auf einer Exkursion des Studiengangs Soziale Arbeit der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm entstanden. Mehr über die Exkursion erfahrt ihr hier.
Dieser Beitrag wurde am 27. November 2018 veröffentlicht.
Während andere Stadtteile Lissabons von Touristen besucht werden, weil sich dort interessante Sehenswürdigkeiten befinden, ist in Alfama der Stadtteil selbst die Sehenswürdigkeit. Mit ihren vielen engen Gassen und unzähligen Treppen erstreckt sie sich vom Ufer des Flusses Tejo bis hoch hinauf zur Burg, dem Castelo de São Jorge. Manche Wege sind so klein, dass man sie auf keiner Karte findet – selbst Google Maps scheint manchmal verwirrt in dieser Gegend. „Sollte man sich in dem verflochtenen Netz aus Straßen und Gassen verlaufen, Ruhe bewahren und genießen“, hat Stadtführer José uns am ersten Tag geraten.
Für viele ist die Alfama das charmanteste Viertel der Stadt. An jeder Ecke gibt es etwas Neues zu entdecken: eine mit Streetart verzierte Mauer, ein besonders schön gestalteter Balkon, eine ältere Dame, die aus ihrem Wohnzimmer heraus den berühmten Sauerkirschlikör Ginjinha nach Familienrezept verkauft. Man läuft so nah an den geöffneten Fenstern der Häuser vorbei, dass man den Essensduft aus den Küchen riechen und den Gesprächen der Bewohner lauschen kann. In diesen beengten Verhältnissen vermischt sich öffentlicher und privater Raum, man hat das Gefühl am Leben der Einheimischen teilzuhaben.