Lissabon – Es ist eng in dem kleinen Reihenhäuschen im Stadtteil Graça. Um den Esstisch im ersten Stock drängen sich 21 Menschen und blicken auf Tabellen und Diagramme, die Dorothee Bäuerle Rodrigues per Beamer an eine Wand projiziert. In Portugal ist jeder fünfte Einwohner über 65 Jahre alt, erfahren wir von der freiberuflichen Gerontologin und Sozialpädagogin aus Baden-Württemberg, die wegen der Liebe vor einigen Jahren nach Cascais in der Nähe von Lissabon gezogen ist.
Die alternde Gesellschaft ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit – in Portugal wie in Deutschland. Auf einer Exkursion in Lissabon gehen Studierende und Professorinnen der Sozialen Arbeit der Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm sowie Praktikerinnen aus Deutschland der Frage nach, wie Senioren in der portugiesischen Hauptstadt leben.
Die Schere zwischen Arm und Reich ist in Portugal viel gravierender, es gibt nicht so eine breite Mittelschicht wie in Deutschland und etwa 70 Prozent der Bevölkerung sind nur acht Jahre zur Schule gegangen. Die Mindestrente liegt grade mal bei 397,04 Euro, die vierzehnmal im Jahr ausgezahlt werden. In einer Stadt wie Lissabon, in der die Lebenskosten nur wenig günstiger sind als in Deutschland, reicht das kaum. Kein Wunder, dass viele ältere Menschen arbeiten – zum Beispiel in Restaurants oder Cafés.
Das Gesundheitssystem ist in Portugal staatlich organisiert, ähnlich wie in England. Das heißt, die Grundversorgung ist für alle Menschen kostenlos. Dafür haben sie allerdings keine freie Arztwahl wie in Deutschland, sondern bekommen von Gesundheitszentren einen Arzt zugewiesen. „Daran musste ich mich erstmal gewöhnen“, sagt Dorothee. Einige Leistungen wie Labortests und bestimmte Medikamente müssen die Menschen allerdings selbst bezahlen. Dennoch ist die Versorgung Dorothee zufolge gut. „Einige fühlen sich besser aufgehoben, als in privaten Systemen“.
Als nächstes hören wir einen Vortrag von Constantin Ostermann, dem deutschstämmigen Präsidenten der Bartholomäus-Brüderschaft in Lissabon. Die Brüder haben ihren Ursprung im 13. Jahrhundert, gegründet von einem deutschen Kaufmann, um notleidenden Kreuzrittern aus Deutschland zu helfen.
Heute engagiert sich das gemeinnützige Unternehmen für alte Menschen aller Nationalitäten und betreibt unter anderem einen ehrenamtlichen Besuchsdienst und einen Fahrdienst in die Kirche. Den persönlichen Eindrücken des Präsidenten zufolge sind Senioren im häuslichen Setting in Lissabon generell gut versorgt, so gäbe es etwa recht viele Anbieter von Essen auf Rädern und viele Nachbarn und Familien würden sich gegenseitig unterstützen. „Das ist dann aber auch mit einer gewissen sozialen Kontrolle verbunden“, so Constantin Ostermann.
Am Nachmittag erkunden wir den historischen Stadtteil Alfama. Unsere Quartierführerin ist Teresa, eine resolute Lissabonnerin mit blondiertem Kurzhaarschnitt und pinkem Blazer, die für die Kommunalverwaltung Junta de Freguesia de Santa Maria Maior arbeitet. In rasantem Tempo führt sie uns durch die engen Gassen und wir erfahren viel über die Grundwasserquellen in der Umgebung, aus denen die Bevölkerung bis zur Privatisierung der Wasserversorgung Trinkwasser bezog.
Auch in einen „Lavadouro público“ gehen wir – ein öffentliches Waschhaus, in dem die Frauen aus der Alfama früher Wäsche wuschen. Ich habe gelesen, dass die alten Menschen des Stadtteils noch heute gern dorthin kommen – um in den Steinzubern Wäsche per Hand zu waschen aber vor allem, um ein wenig unter Leute zu kommen und zu plaudern. Als wir dort ankommen, ist jedoch nur eine alte Frau da: Isabel, die mit einer Spendendose auf Besucher wartet. Wir haben die Gelegenheit, einige Worte zu wechseln und Fotos zu machen, dann müssen wir auch schon weiter. „Komm gern wieder, ich bin wochentags immer hier“, sagt die 68-Jährige bei der Verabschiedung zu mir. Ich nehme mir vor, sie in den kommenden Tagen nochmal dort zu besuchen – sehr gern würde ich mehr über sie erfahren.
Bei den Teilnehmern löst die Führung gemischte Gefühle aus. Viele finden es unangenehm, zu den unzähligen Touristen zu gehören, die in den Lebensraum der Bevölkerung eindringen und diesen massiv beeinflussen. Tatsächlich hat unsere Reisegruppe hier und im benachbarten Quartier Graça eine Wohnung und zwei Reihenhäuser angemietet – vermutlich Wohnraum, für den portugiesische Familien früher einen Bruchteil der Miete gezahlt haben, die wir uns die Unterkunft kosten lassen. Wie lange behält Alfama noch seinen ursprünglichen Charakter? Kippt es bald und entsteht hier ein neues Venedig?
Ich bin gespannt, wie die Reise weitergeht. Wenn alles nach Plan läuft, könnt ihr hier auf meinem Blog demnächst auch Beiträge der Studierenden lesen, die bei der Exkursion dabei sind. Ich halte euch auf dem Laufenden!
Dieser Beitrag wurde am 17. Oktober 2018 veröffentlicht.