Wohnformen für Senioren Julia Kirch

Wohnformen für Senioren Julia Kirch

Wohnformen für Senioren

NIEDER MIT DEN HÄKELDECKCHEN

Menschen im Alter von 58 bis 73 Jahren diskutierten in einer Zukunftswerkstatt darüber, wie sie im Alter leben wollen. Projektleiterin Julia Kirch wirft im Interview einen Blick in die Glaskugel

Witten – Für eine Projektarbeit im Rahmen des Masterstudiengangs „Versorgung von Menschen mit Demenz“ an der Universität Witten/Herdecke lud Julia Kirch, Diplom-Ingenieurin (FH) für Architektur, 17 Teilnehmer zu einer Zukunftswerkstatt ein. Einen Tag lang ging es dort um die Anforderungen an künftige Wohnformen für Senioren. Ein Einblick in die Ergebnisse – und drei Dinge, die man beim Bau des Pflegeheims der Zukunft unbedingt beachten sollte.

Kati: Der Gedanke, der dich bei der Konzeption dieses Projekts begleitete, war ,Ozzy Osbourne meets Mutter Beimer‘. Was genau meinst du damit?

Julia: Die künftigen Bewohner von altersgerechten Wohnformen sind sehr unterschiedlich. Das heißt, dass sich sowohl Personen dort finden, deren Lebensstil dem des Rockmusikers Ozzy Osbourne ähnelt, als auch so heimelige Typen wie die Figur der ,Mutter Beimer‘ aus der Lindenstraße. Das sind natürlich zwei Extreme. Kommen die zusammen, stellt sich die Frage, wie und ob das funktionieren kann.

Ist das eine neue Entwicklung oder hat es diese Tendenz schon immer gegeben?

Julia: Ich glaube, die Entwicklung verschärft sich. Wenn man sich die Wohnzimmer in den 1950ern anschaut, sahen die alle relativ ähnlich aus. Heute gibt es da eine deutlich größere Vielfalt. Und ich denke, dass sich diese Unterschiede in Zukunft noch stärker herauskristallisieren werden. Zumindest in der grauen Literatur [Anmerkung von Kati: Publikationen, die nicht über den Buchhandel vertrieben werden] gibt es einige Hinweise darauf, dass beispielsweise Mitarbeiter von Pflegeeinrichtungen ähnliche Beobachtungen machen.

Die Lebensstile sind also vielfältiger geworden. Gibt es auch etwas, das die ,Neuen Alten‘ gemeinsam haben?

Julia: Die Menschen haben heute eine veränderte Anspruchshaltung. Das fängt schon damit an, dass sie sich vor Arztbesuchen darüber informieren, wie die Diagnose und die Behandlung aussehen könnten. Das zeigt, dass sie sich einbringen und mitbestimmen möchten. Sie sind weniger bereit, einfach hinzunehmen, was mit ihnen und in ihrem Umfeld passiert – und das wirkt sich auch auf ihre Ansprüche in Bezug auf das Wohnen aus.

Um mehr über diese Bedürfnisse herauszufinden, hast du eine Zukunftswerkstatt organisiert. Zur Anregung der Diskussion unter den Teilnehmern hast du ihnen unter anderem Bilder gezeigt, die sie mit verschiedenfarbigen Klebepunkten bewerten sollten. Wieso hast du dich für diese Herangehensweise entschieden?

Julia: Meine Fragestellung theoretisch zu bearbeiten, fand ich zu abstrakt. Ich wollte die Zielgruppe zur Expertengruppe zu machen. Durch meine Lehrtätigkeit an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe habe ich bereits Erfahrung mit der Moderation von Gruppen. Darauf aufbauend wollte ich mit diesem Format herausfinden was passiert, wenn die zukünftigen Nutzer von Alterswohnformen in einen Dialog miteinander treten.

Viele bunte Klebepunkte: Bei der Zukunftswerkstatt bewerteten die Teilnehmer Fotos von Wohnräumen

Und – hat das funktioniert?

Julia: Ein Stück weit schon. Die Teilnehmer waren sehr motiviert und haben angeregt, zum Teil auch recht kontrovers diskutiert.

Was waren deine persönlichen Highlights?

Julia: Ein Teilnehmer meinte, dass Männer andere Räume brauchen als Frauen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Er schlug dabei ganz klischeehaft die Werkstatt oder den Grillplatz vor. Das fand ich interessant. Ein anderer Teilnehmer hatte offensichtlich Schwierigkeiten, die rosa Klebepunkte von den orangen zu unterscheiden. Das hat mir die veränderte Farbwahrnehmung im Alter, mit der mich theoretisch schon häufig auseinander gesetzt habe, auch praktisch vor Augen geführt – ein spannender Nebeneffekt. Generell hat mich die Offenheit und Bereitschaft der Teilnehmer, mit völlig Fremden über sehr persönliche Dinge zu sprechen, berührt und beeindruckt.

Kannst du die wichtigsten Ergebnisse deiner Untersuchung zusammenfassen?

Julia: Es muss unterschiedliche Wohnformen für Senioren geben. Man kann nicht ein Gebäude für alle bauen und dann vielleicht mal die Tapetenfarbe oder die Möbel variieren. Das mag für einige die richtige Lösung sein, andere würden jedoch lieber in ein Quartier eingebunden leben und von einem Pflegedienst versorgt werden. Generell sollten wir uns noch stärker den Aktivitäten widmen und uns damit beschäftigen, wie und wo die Menschen miteinander kommunizieren und interagieren.

Gab es auch Überraschungen?

Julia: Was mich persönlich überrascht hat, ist der ausgesprochen starke Wunsch nach dem Bezug zur Natur. Ich habe Innenarchitektur studiert, deshalb ist die Natur für mich nicht in erster Linie präsent, wenn ich etwas plane. Natürlich beziehe ich bei Entwürfen auch die Außenwelt mit ein. Aber dass sie für die Workshop-Teilnehmer so eine große Rolle spielt, war mir nicht klar. Eine weitere neue Erkenntnis ist, dass Eleganz Distanz schafft. Das ist total nachvollziehbar – aber für Menschen, die Architektur studiert haben, ein ungewohnter Ansatz.

Wenn ich jetzt vorhätte, eine neue Wohnform für Senioren zu schaffen: Welche Tipps würdest du mir geben?

Julia: Erstens: das Gebäude nie für sich betrachten, sondern immer auch die Umgebung. Zweitens: darauf achten, dass die Privatsphäre der Bewohner gewährleistet ist. Drittens: die zukünftigen Nutzer mit einbeziehen. Derartige Prozesse müssen allerdings gut moderiert werden, sonst ufert es schnell aus. Aber ich bin überzeugt, dass die Pflegebedürftigen von morgen ihre Zukunft selbst planen möchten. Gerade von den jüngeren Teilnehmern der Zukunftswerkstatt hatten viele sich bereits mit den Wohnformen der eigenen Eltern auseinandergesetzt und wollten es besser machen. Ich glaube, da liegt ein riesiges Potenzial. Man sollte sie früher ins Boot holen und besser über ihre Möglichkeiten und die Finanzierung aufklären.

Dieser Artikel wurde am 5. Juli 2017 veröffentlicht

Foto (Zukunftswerkstatt): Julia Kirch

Julia Kirch

Die Diplom-Ingenieurin (FH) für Innenarchitektur und Architektur forscht und lehrt zu den Themen altersgerechte Wohnstrukturen und demenzsensible Architektur. Sie ist Stipendiatin im Graduiertenkolleg „Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus“ im Netzwerk Alternsforschung NAR an der Universität Heidelberg. Ergänzend studiert sie im multiprofessionellen Masterstudiengang „Versorgung von Menschen mit Demenz“ an der Universität Witten/Herdecke. Von 2009 bis 2016 war Julia wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt PerceptionLab der Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Während ihres Architekturstudiums sammelte sie Berufserfahrungen in Architekturbüros im In- und Ausland.

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