Martin_Dichter_Generalistische_Pflegeausbildung

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Generalistische Pflegeausbildung

„EINE ECHTE GENERALISTIK GIBT ES NICHT“

Sinnvolle Reform oder Mogelpackung? Martin Dichter vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) im WhatsApp-Interview über die generalistische Pflegeausbildung.

Witten – Die Pflegeausbildung wird reformiert. Ab 2020 sollen Gesundheits- und Kranken-, Alten- und Kinderkrankenpfleger zwei Jahre gemeinsam die Schulbank drücken. Im dritten Ausbildungsjahr können sie sich spezialisieren – oder die generalistische Ausbildung weitermachen. Martin Dichter, Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaftler und Vorsitzender des DBfK Nordwest über die Vor- und Nachteile dieses Kompromisses.

Kati: Martin, was hältst du als Vorsitzender des DBfK Nordwest von dem grade verabschiedeten Gesetz zur generalistischen Pflegeausbildung?

Martin: Das Gesetz ist ein Kompromiss und wie üblich bei Kompromissen gibt es gute und schlechte Anteile. Ich freue mich vor allem, dass mit dem Gesetz die hochschulische Ausbildung ein Regelzugang zum Beruf wird, vorbehaltene Tätigkeitsfelder und selbstständige Kompetenzprofile eingeführt werden.

Kati: Kannst du das anhand von Praxisbeispielen etwas konkretisieren?

Martin: ? Klar. Die hochschulische Ausbildung als Zugang zum Beruf war bisher nur in Modellstudiengängen möglich. Zukünftig ist dieser Zugang zum Beruf kein Modell mehr sondern anerkannter Regelzugang. Das heißt, es muss nicht mehr erprobt werden, ob eine Pflegeausbildung so machbar und sinnvoll ist. Vielmehr ist es jetzt selbstverständlich und gesetzlich anerkannt, dass die Pflegeausbildung auch an Hochschulen erfolgt. Hierdurch wird die Entwicklung von weiteren Studiengängen deutlich gefördert. Hinsichtlich der vorbehaltenen Tätigkeitsfelder heißt es im Gesetz sehr eindeutig, dass nur wir Pflegefachpersonen den individuellen Pflegebedarf erheben und feststellen dürfen. Gleiches gilt für die Organisation, Gestaltung, Steuerung und Evaluation des Pflegeprozesses und die Sicherung und Entwicklung von Qualität in der Pflege. Das bedeutet, dass eben nicht jeder beruflich pflegen kann…

Kati: Okay, verstehe ?das waren ja jetzt alles positive Aspekte. Was kritisierst du denn an der Generalistik wie es sie jetzt geben wird?

Martin: Naja, also eine echte „Generalistik“ gibt es ja nicht nach dem Gesetz. Es wird jetzt eine gemeinsame Ausbildung der bisherigen drei Pflegeberufe geben. Allerdings nur bis zum Ende des zweiten Ausbildungsjahres. Dann entscheiden sich die Auszubildenden, ob sie sich im dritten Jahr generalistisch ausbilden lassen wollen oder eine Vertiefung in der Altenpflege oder Gesundheits- und Kinderkrankenpflege absolvieren möchten. Das führt zu einem erheblichen organisatorischen Aufwand für die Schulen, da jede Schule nun grundsätzlich alle drei Wege ermöglichen muss. Daneben ist dieser Kompromiss auch einfach den Verwertungsinteressen der Arbeitgeber geschuldet und eben nicht pflegefachlich begründet. Das führt dann auch dazu, dass die Auszubildenden, die sich für die Vertiefung in der Altenpflege oder Gesundheits- und Kinderkrankenpflege entscheiden, keine automatische Anerkennung der Ausbildung innerhalb der EU erhalten. Dies schränkt dann nicht nur die berufliche Mobilität der Absolventen in Deutschland sondern auch europaweit ein…

Kati: Und du hättest es besser gefunden, wenn alle die dreijährige generalistische Ausbildung machen würden – ohne Spezialisierung? ?

Martin: Ja, ganz eindeutig. ? Eine generalistische Pflegeausbildung ist schon heute möglich, wie beispielsweise die Wannsee-Schule in Berlin oder die Albertinen-Schule in Hamburg zeigen. Daneben ist sie schlicht pflegefachlich sinnvoll. Ältere Menschen mit chronischen Erkrankungen und einem chronischen Pflegebedarf werden heute in allen pflegerischen Handlungsfeldern versorgt und ihre Zahl steigt stetig. Das heißt auch, dass die hierfür sinnvolle Ausbildung alle Pflegenden erhalten sollten. Eine Vertiefung zu einzelnen pflegerischen Handlungsfeldern ist sicherlich sinnvoll – aber diese muss sich an eine Ausbildung anschließen… So ist das ja auch bei den anderen Gesundheitsberufen. Erst Ausbildung und dann Vertiefung. Wie ist das denn bei euch Journalisten? Ihr vertieft euer Fachwissen doch sicherlich auch nicht schon in der ersten Ausbildung. Oder?

Kati: Das ist etwas anders, da Journalist keine geschützte Berufsbezeichnung ist und Blogger schonmal gar nicht ?Um Redakteur zu werden, absolviert man ein Volontariat, dafür wird meist ein Hochschulabschluss (irgendeiner Disziplin) vorausgesetzt, ist aber auch kein Muss soviel ich weiß… Aber zurück zur Pflege. Ratet ihr als DBfK dann künftigen Auszubildenden, sich im letzten Jahr nicht zu spezialisieren sondern drei Jahre Generalistik zu machen?

Martin: Ja, genau. ?? So können Sie eine Ausbildung abschließen die sie mit dem notwendigen Pflegewissen und beruflicher Flexibilität und vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten ausstattet.

Kati: Und danach trotzdem in der Alten- oder Kinderkrankenpflege arbeiten?

Martin: Ja klar. In allen pflegerischen Handlungsfeldern gibt es jetzt und in Zukunft einen enormen Bedarf an gut ausgebildeten Pflegefachpersonen.

Kati: Aber speziell bei alten Menschen existieren doch schon einige Besonderheiten, auf die Pflegefachpersonen vorbereitet sein sollten. Ich denke da beispielsweise an demenzielle Veränderungen. Haben solche Themen in der generalistischen Ausbildung überhaupt genügend Raum?

Martin: Natürlich wird auch die Pflege von Menschen mit Demenz thematisiert und den Auszubildenden wird das notwendige Wissen vermittelt. Die Auszubildenden haben dann aber selbstverständlich noch keine Expertise wie eine Pflegefachperson, die sich nach der Ausbildung weiterqualifiziert hat und viel Erfahrung gesammelt hat. Das kann man aber auch nicht von einer Ausbildung (egal welcher Art) erwarten. Auch Journalistinnen schreiben ja nicht gleich als frisch gebackene Redakteurin den Leitartikel zu einem komplexen Thema. Und Ärzte verantworten auch die ärztliche Therapie bei komplexen Krankheitsbildern nicht gleich nachdem Studium allein. Speziell Ärzte haben ein sehr ausdifferenziertest System an Fachqualifikationen nach dem Studium. Bis zum Aufbau von echtem Expertenwissen ist es ein langer Weg. Patricia Benner hat hierzu ein hervorragendes Buch für die Pflege geschrieben: „From Novice to Expert“.

 K: Ist nur die Frage, ob Pflegefachpersonen die Möglichkeit haben, sich diese Expertise anzueignen, bevor sie mit Menschen mit Demenz arbeiten, oder? ?

Martin: ? Wichtig ist, dass das Gesundheitssystem die Voraussetzung dafür schafft, dass wir Pflegende die Expertise entwickeln können. Das gilt aber schon jetzt. Wenn heute ausgebildete Altenpflegende nach dem Examen eingesetzt werden, sollten sie auch nicht gleich die Menschen pflegen müssen, für die viel Erfahrung und damit auch Fallverstehen notwendig ist. Daneben erfolgt Pflege häufig im Team über 24 Stunden und sieben Tage die Woche. Hier müssen die Teams dann so zusammengestellt sein, dass sich die Pflegenden gegenseitig ergänzen und die wenig erfahrenen von den erfahrenen lernen und umgekehrt. Auch hierfür müssen die Möglichkeiten zum Beispiel durch Reflektion im Rahmen von Fallbesprechungen oder Supervision gegeben sein. Das gilt heute und auch unter der neuen Ausbildung ab 2020.

Kati: Ach ab 2020 gibt es die neue Ausbildung erst? Ich dachte, das war schon ab 2018 geplant ?

Martin: Ja, leider. Auch da sind die Politiker den Gegnern einer neuen Ausbildung entgegengekommen…

Kati: Wie du schon meintest: ziemlich viele Kompromisse ? Wer sind denn die größten Gegner gewesen?

Martin: Das waren all diejenigen, die eher vom aktuellen System profitieren. Also zum Beispiel private Arbeitgeberverbände in der Altenpflege oder die Kinder- und Jugendmediziner.

Kati: Meinst du, dass durch die neue Pflegeausbildung mehr Leute in die Krankenpflege gehen und sich der Fachkräftemangel in der Altenpflege noch weiter verschärft?

Martin: ? Das ist ganz sicher die Sorge von vielen Gegnern einer generalistischen Ausbildung. Ich denke, dass die jeweiligen Arbeitsbedingungen entscheidend für die Personalsituation in der Altenpflege aber auch in allen anderen Versorgungsbereichen  sind. Ob ich als Einrichtung Personal habe oder nicht, das hängt entscheidend von den Arbeitsbedingungen ab – und nicht von der neuen Pflegeausbildung. Und deutlich bessere Arbeitsbedingungen sind unabdingbar um die Attraktivität des Berufs Pflege wieder zu verbessern und auch um zum Beispiel Menschen mit Demenz personenzentriert zu pflegen. Wir wissen, dass eine personenzentrierte Pflege nur dann möglich ist, wenn auch mit den Pflegenden personenzentriert umgegangen wird. Und auch heute gibt es Altenheime, die ihr Personal bewusst auswählen können und Wartelisten mit Initiativbewerbungen haben. Und das nicht nur auf dem Land, sondern auch in Ballungsgebieten.

Kati: Okay, ich merke, auch darüber könnten wir wahrscheinlich ein langes Interview führen … ? aber unser Thema ist ja die generalistische Pflegeausbildung. Also noch eine letzte Frage dazu: Wie ist das mit den Pflegefachpersonen, die noch nach der alten Regelung ausgebildet wurden? Müssen die jetzt Nachteile fürchten, wenn 2023 die ersten „Neuen“ auf den Arbeitsmarkt drängen?

Martin: Nein, es gibt entsprechende Anerkennungsregelungen im Gesetz, die das verhindern.

Kati: ? Gibt es sonst noch etwas, das du zum Thema generalistische Pflegeausbildung loswerden möchtest?

Martin: Ich hoffe, dass die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung zügig nach der Bundestagswahl verabschiedet wird und dass die Diskussion und die Abstimmung im Bundestag nicht von Verwertungsinteressen sondern von Pflegewissen bestimmt werden.

Kati: Danke für den Chat ?

Martin: Gerne ?

Foto: privat

Dieser Beitrag wurde am 25. Juli 2017 veröffentlicht

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