Schmerztherapie bei Demenz

ES GIBT NOCH VIEL ZU TUN

An Tag vier der Studienreise trafen wir in Bergen auf Bettina Husebø. Die charismatische Professorin für Alters- und Pflegeheimmedizin sprach zwei Stunden über Schmerztherapie bei Demenz – und erklärte uns nebenbei das norwegische Gesundheitssystem

Bergen – So langsam gewöhne ich mich an das frühe Aufstehen. Um 4.30 Uhr klingelt der Wecker. Um 6 Uhr startet der Bus zum Flughafen von Stavanger. Von dort geht es nach Bergen und zum diakonischen Krankenhaus Haraldsplass Diakonale Sykehus. Die Mitarbeiter empfangen uns herzlich und führen uns in den Besprechungsraum – einem per Schiebetür abgeteilten Teil der Cafeteria mit atemberaubendem Blick auf zwei der sieben Berge, die der zweitgrößten Stadt Norwegens vermutlich ihren Namen geben.

Die letzten Tage waren anstrengend. Die anderen Teilnehmer und ich nippen verschlafen an unserem Kaffee, der uns hier in Norwegen glücklicherweise in rauen Mengen serviert wird. Als Bettina Husebø mit ihrem Vortrag beginnt, ändert sich die träge Stimmung jedoch schlagartig. Die Professorin für Alters- und Pflegeheimmedizin stammt ursprünglich aus Deutschland. Der Liebe wegen ging sie mit ihrem Mann in seine norwegische Heimat, wo sie heute an der Universität Bergen arbeitet.

EINE BEHANDLUNG FÜR ALLE

Zunächst warnt sie uns davor, das norwegische Gesundheitssystem zu unkritisch zu betrachten. Ihre Wahlheimat bezeichnet die ausgebildete Anästhesistin, Palliativ- und Intensivmedizinerin als den „letzten sozialistischen Staat“ in dem alles von oben bestimmt werde und die gleichen Bedingungen für alle gälten. „Ob Lehrer, Ingenieure oder Arbeiter – im Krankenhaus erhalten alle dieselbe Behandlung.“

Schmerztherapie bei Demenz

Bettina Husebø im Gespräch mit einer Reiseteilnehmerin

 

Das klingt meiner Meinung nach gar nicht so übel. In Norwegen ist die Gesundheitsversorgung Sache des Staates und wird mit Steuergeldern finanziert bis auf einen gedeckelten Eigenanteil jedes Bürgers. Das erscheint mir gerechter als das System in Deutschland, wo sich Gutverdiener privat versichern, bessere Leistungen erhalten und aus dem solidarischen System der gesetzlichen Krankenkassen rausziehen können. Doch Bettina Husebø zufolge hat auch das zentral organisierte System Nachteile – etwa, dass viele Patienten lange Zeit auf eine Behandlung warten müssen.

FORSCHUNG VOLLER LEIDENSCHAFT

Man kann Bettina Husebø anmerken, dass sie es gewohnt ist, vor vielen Menschen zu sprechen. Den Außentemperaturen um die 6 Grad zum Trotz trägt sie ein weißes Kleid mit Colorprint zur grünen Perlenkette und Turnschuhen – ein Outfit, das ihre erfrischende Art noch unterstreicht. Packend präsentiert sie ihre Forschung zur Schmerztherapie bei Menschen mit Demenz. Eine Leidenschaft, der sie offensichtlich voller Elan nachgeht. Zwischendurch richtet sie immer wieder Fragen ans Plenum.

INSTRUMENT ZUR SCHMERZERFASSUNG

Zwischen 40 und 60 Prozent der Pflegeheimbewohner in Norwegen litten an Schmerzen, sagt sie. Und während bei Krebspatienten alles für die Linderung getan werde, stecke Palliative Care bei Menschen mit Demenz noch in den Kinderschuhen.

Diese bei Menschen mit Demenz zu erfassen, sei aus verschiedenen Gründen extrem schwierig, erklärte uns die Forscherin. So könnten die Betroffenen oftmals den Verlauf und die Qualität der Schmerzen nicht angeben oder ihre körperlichen Reaktionen ließen sich nicht eindeutig interpretieren.

Husebø zufolge kann das Schmerzempfinden von Menschen mit Demenz am besten in ihrer gewohnten Umgebung festgestellt werden. Die unter Husebøs Leitung entwickelte Schmerzskala MOBID (Mobilization – Observation – Behaviour – Intensitiy – Dementia, zu Deutsch: Mobilisierung – Beobachtung – Verhalten – Intensität – Demenz ) ist ein Instrument, mit dem Pflegende bei der Morgenpflege das Schmerzempfinden von Patienten mit schwerer oder moderater Demenz ermitteln können. Die MOBID Schmerzskala sowie eine Erklärung zur Anwendung findet ihr am Ende des Artikels zum Herunterladen.

KRANKENHAUSAUFENTHLTE VERMEIDEN

Was Husebø dann sagt, hören wir hier in Norwegen nicht zum ersten Mal: „Im Idealfall nimmt man demenziell erkrankte Personen überhaupt nicht im Krankenhaus auf, sondern behandelt sie stattdessen im Pflegeheim.“ Und wenn es gar nicht anders gehe – sagt sie weiter – sollte der Aufenthalt so kurz wie möglich sein.

INSTITUT FÜR ALTERSMEDIZIN

Als die engagierte Wissenschaftlerin vor 20 Jahren nach Norwegen zog, heuerten die heute 57-Jährige und ihr Mann, der ebenfalls Anästhesist ist, im größten Pflegeheim Bergens an, um dort Palliative Care für alte Menschen zu etablieren. Bis heute eine riesige Herausforderung. Bald identifizierte Bettina Husebø jedoch einen anderen Bedarf. „Das Hauptproblem ist nicht das Sterben, das passiert meist friedlich. Das Drama ist die Zeit davor“, sagte sie.

Ihr zufolge wissen Ärzte und Medizinstudenten nur wenig über Altersmedizin – und das, obwohl Pflegeheime in Norwegen fest angestellte Ärzte haben. „Das wollte ich ändern und ein entsprechendes Zentrum an der Universität Bergen gründen“, sagt Husebø. Gesagt, getan: 2012 eröffnete das Centre for Elderly and Nursing Home Medicine (SEFAS).

Unserer Reisegruppe zeigte sich Bergen von seiner sonnigen Seite

REGENWETTER MACHT PRODUKTIV

Nach dem Vortrag frage ich die Professorin, wie sie das Wetter in ihrer Wahlheimat findet. Mit angeblich 240 Regentagen im Jahr gilt Bergen als die regenreichste Stadt Europas. Tatsächlich sei das Wetter oft unerträglich, sagt Husebø. Doch sie macht das Beste daraus. „Ich arbeite dann einfach ganz viel – ich glaube, wenn ich in Italien leben würde, wäre ich nur halb so produktiv.“ Da muss ich doch mit den Augen zwinkern, denn in Rom fällt bekanntlich insgesamt mehr Regen auf den Quadratmeter als hier. Egal. Wir haben Bergen heute sogar im strahlendem Sonnenschein erlebt – zu schade, dass wir direkt von der Uni zum Flughafen gefahren wurden, um zurück nach Oslo zu fliegen. Bettina Husebø hat sich lächelnd von uns verabschiedet.

Die MOBID Schmerzskala auf Deutsch zum Download

Anleitung zur MOBID Schmerzskala auf Deutsch zum Download

 

Weitere Berichte zur Studienreise Demenz im Krankenhaus findet ihr hier:

Tag eins: Studienreise nach Norwegen

Tag zwei: Norwegen hat einen Plan

Tag drei: Häkeln statt fixieren

Tag vier: Schmerztherapie bei Demenz

Tag fünf: Interdisziplinäres Teamwork machts möglich

 

Dieser Artikel wurde am 1. Juni 2017 veröffentlicht

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4 Kommentare

  1. helga sagt:

    Die Schmerzskala soll ich mir auch merken: Mobilisierung – Beobachtung – Verhalten – Intensität – Demenz. Vielen Dank für die fesselnde Methode. Ist die auch bei der Osteoarthrose wirksam? Im Voraus würde ich sehr dankbar für die Tipps dazu sein!

    • Kati sagt:

      Liebe Helga, vielen Dank für deinen Kommentar – ich freue mich, dass mein Blog-Beitrag dir helfen konnte. Leider muss ich beim Thema Osteoarthrose passen – aber vielleicht schaut ja ein anderer Leser hier vorbei, der oder die etwas darüber sagen kann? Alles Liebe, Kati

  2. Vielen Dank für den Beitrag zum Thema Schmerztherapie bei Demenz. Meine Nachbarin ist mit ihrer Mutter in einer Praxis für Schmerztherapie, da es schwierig ist, sie richtig auf Schmerzmittel einzustellen. Gut zu wissen, dass Demenzkranke den Verlauf und die Stärke der Schmerzen oft schwer angeben können.

  3. Mein Bruder sucht seit einiger Zeit nach Tipps zu Palliativbetreuung. Gut, dass ich den Beitrag hier gefunden habe. Die Informationen sind wirklich hilfreich und interessant.

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