Kati Cares Blog-Beitrag Lebensqualitaet Pflegende Angehoerige

Kati Cares Blog-Beitrag Lebensqualitaet Pflegende Angehoerige

Lebensqualität pflegender Angehöriger

„ES SCHMERZT IN DER BRUST – ABER ES IST AUCH EINE BEFREIUNG“

Mutter, Oma, Tochter, Ehefrau – Frauke hat sich immer um andere gekümmert. Jetzt hat sie zum ersten Mal in ihrem Leben Zeit für sich.

Hamburg – Dies ist die Geschichte von Frauke. Sie zog fünf Kinder groß, pflegte ihre blinde Mutter und ihren an Demenz erkrankten Mann. Für andere sorgen, das ist ein Muster, das sich durch das ganze Leben der heute 79-Jährigen zieht. Aber ich greife vor – dabei will ich die Geschichte von Anfang an erzählen.

1938 wird Frauke als Tochter eines Musikers geboren. Sie wächst behütet auf, will Krankenschwester werden. Mit 15 lernt sie einen Kollegen ihres Vaters kennen. Sie spielen Mensch ärgere dich nicht. Alle schwärmen von dem begabten jungen Musiker. Nur Frauke, damals fast noch ein Kind, dachte sich nichts dabei. Bis zu jenem Tag im April 1956. Sie war mittlerweile 18 und er erfolgreich bei einem Symphonieorchester in Süddeutschland. Zu Ostern besuchte er ihre Familie. „Und dann hat er mich zur Seite genommen und einfach geküsst“, berichtet Frauke.

LIEBE WIE IN EINEM ROMAN

Wir sitzen in Fraukes Wohnzimmer. Auf einem Flügel aus Fichtenholz steht eine Vase mit gelben Rosen. Zahlreiche Bilderrahmen zeigen Aufnahmen der Familie. Fraukes älteste Tochter ist auch da. Frauke fährt fort, von ihrer großen Liebe zu erzählen.

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Frisch verliebt: Frauke und ihr späterer Mann im Jahr 1956

In den Monaten nach dem ersten Kuss wirbt der junge Musiker um Frauke, schreibt Briefe und schickt Schmuck. Als er um ihre Hand anhält, sagt sie ja. Weil er nicht so lange warten will, verzichtet sie auf ihre Ausbildung. Stattdessen belegt sie Kurse in Hauswirtschaft. „Nach dem Krieg gab es ja kaum etwas, da habe ich zu Hause nicht richtig kochen gelernt“, so Frauke. Bei der Hochzeit im Dezember ist sie bereits schwanger, nach der Trauung zieht sie mit ihrem Ehemann nach Süddeutschland.

JUNG, SCHWANGER UND ALLEIN – LEBENSGESCHICHTE EINER PFLEGENDEN ANGEHÖRIGEN

Das erste Ehejahr ist ernüchternd. Ihr Mann kann sein Junggesellenleben nicht ablegen, sitzt nach den Konzerten bis spät in die Nacht mit seinen Kollegen zusammen. „Ich war jung, schwanger und allein“, sagt Frauke. Wenn er tagsüber üben muss, setzt sie sich in die Küche. „Der einzige warme Ort in unserer Wohnung.“ Der Musiker wird immer bekannter, spielt in den großen Konzerthäusern Europas. Junge Frauen stehen Schlange, um ihm Rosen und selbst gebackene Kuchen zu schenken.

Nachdem 1957 ihr erstes Kind geboren ist, findet sich Frauke in ihr neues Leben ein. In den Jahren 1958 bis 1967 bringt sie vier weitere Kinder zur Welt. Die Familie zieht um – zuerst an den Rhein und dann an die Elbe.

EINE WÄSCHESCHLEUDER STATT SCHMUCK

Während wir uns unterhalten, merken wir gar nicht, wie die Zeit vergeht. Um 11.30 Uhr bin ich gekommen – auf einmal ist es 14.30 Uhr. Frauke und ihre Tochter decken den Tisch – es gibt selbst gebackenen Aprikosenkuchen. Fraukes Sohn, der zeitweise bei ihr wohnt während er sein Haus renoviert, ist auch gekommen. Zur Freude seiner Mutter hat er Gladiolen in allen möglichen Farben mitgebracht. „Die brauchen Wasser und dann müssen wir noch Sahne schlagen“, sagt Frauke geschäftig. Ihre Tochter erwidert: „Jetzt kümmere dich erst mal um die Blumen – du kannst nicht alles machen!“

Beim Kuchen, der übrigens köstlich ist, erfahre ich, dass Frauke damals die Wäsche ihrer siebenköpfigen Familie mit der Hand gewaschen hat. Ungläubig schüttele ich den Kopf. Frauke erinnert sich daran, wie sie ihren Mann überreden musste, eine Wäscheschleuder anzuschaffen. „Er hat mir zur Geburt jeden Kindes ein Schmuckstück geschenkt – aber um die Dinge, die mir den Alltag erleichterten, musste ich betteln.“

Ich ahne, dass ihre Ehe nicht immer einfach war. Doch sie spricht ohne Groll, scheint ihren Frieden mit der Vergangenheit gemacht zu haben – ohne dabei etwas zu verklären oder zu beschönigen.

ERST GLÜCKLICHER RUHESTAND, DANN PFLGENDE ANGEHÖRIGE

Als die Kinder aus dem Haus sind, hat Frauke dennoch stets ein offenes Ohr für sie und die sechs Enkel, von denen immer mal einer bei den Großeltern unterkommt. Inzwischen haben einige von ihnen bereits eigene Familien gegründet und Frauke ist vierfache Uroma.

Frauke und ihr Mann genießen ihren gemeinsamen Ruhestand. Acht Jahre lang verbringen sie jeden Winter im Ausland, wo ihre älteste Tochter lebt. Doch dann ist damit auf einmal Schluss. Frauke muss ihre Mutter pflegen.

Die alte Dame leidet an der Augenerkrankung Retinitis pigmentosa, durch die sie erblindet ist. Zudem lässt auch ihr Hörvermögen immer weiter nach. Seit ihrem 87. Lebensjahr hatte sie in einer Servicewohnanlage gelebt. „Das war sehr hübsch, wie ein Hotel aber mit einer familiären Atmosphäre“, sagt Frauke. Aber jetzt benötigt ihre Mutter intensive Pflege und Betreuung – eine Aufgabe, der das Pflegepersonal der Wohnanlage nach Fraukes Ansicht nicht gewachsen ist. Und so holt sie die inzwischen 95-Jährige zu sich nach Hause.

ZWEI MENSCHEN BETREUEN – BELASTUNG MINDERT LEBENSQUALITÄT PFLEGENDER ANGEHÖRIGER

Aufopfernd kümmert sich Frauke um ihre Mutter, deren Zustand sich immer weiter verschlechtert. „Am Anfang konnte ich noch mit ihr spazieren gehen, doch eines Nachts fiel sie aus dem Bett und brach sich Schulter und Oberschenkelhals“ erzählt Frauke. Hinzu kommt das Unverständnis ihres Mannes, dem es offenbar Probleme bereitet, seine Schwiegermutter in diesem Zustand zu sehen.

Auch ihr Mann verhält sich immer häufiger auffällig, verlässt das Haus in Pantoffeln, verläuft sich. „Das hat ganz schleichend angefangen“, sagt Frauke. „Zum Beispiel hat er versucht, mir beim Frühstück etwas zu sagen – und dann doch nur die Etiketten auf dem Marmeladenglas vorgelesen.“ Sie spürt, dass er Angst hat, aber nicht darüber sprechen will.

Die anfängliche Fahrigkeit weicht einem unwirschen Verhalten. Schließlich suchen sie einen Neurologen auf, der nach mehreren Tests die Diagnose Alzheimer-Demenz stellt.

LEBENSQUALITÄT PFLEGENDER ANGEHÖRIGER – WIE ES MIR GEHT, IST EGAL

Eine Zeitlang kümmert sich Frauke gleichzeitig um Mutter und Ehemann. Auch wenn sie viel Unterstützung von ihren Kindern bekommt, zehrt das an ihren Kräften. Doch das bemerkt sie kaum.„Ich habe ja gar nicht darüber nachgedacht, wie es mir geht“, sagt sie. Und als sie einmal etwas für sich tun und auf eine Kur fahren will, verweigert die Krankenversicherung ihr die Leistung mit der Begründung, sie sei zu alt für eine Reha-Maßnahme. „Die haben sich so was von quergestellt, dass ich das letztendlich selbst bezahlt habe“, sagt sie.

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Ich-Zeit: Heute ist Frauke spontan und flexibel

2012 ist die Situation schließlich nicht mehr tragbar, die Mutter zieht in ein Pflegeheim in der Umgebung. Auch dort besucht Frauke sie täglich, bis die hochbetagte Frau im Januar 2016 im Alter von 103 Jahren stirbt.

Derweil schreitet die Demenz ihres Mannes weiter fort. Seine mürrische Grundhaltung weicht einer Sanftheit, die Frauke so noch nicht an ihm kannte. „Auf einmal sagte er Dinge wie ,wenn ich dich nicht hätte’, gab mir Küsschen und hielt meine Hand“, berichtet sie.

DEMEMZ: DAS MUSIKZENTRUM IM GEHIRN FUNKTIONIERT NOCH

Und so sehr seine Fähigkeiten zu Orientierung und logischem Denken auch nachließen – musizieren konnte er noch. „Dann war er beschäftigt und ist in seiner Welt versunken – was für ein schönes Geschenk“, so Frauke. In einem seiner klaren Momente, die immer seltener werden, sagt er: „Wenn ich einmal nicht mehr spielen kann, will ich sterben“.

Zum letzten Mal musiziert er im April 2016. Er spielt anspruchsvolle Stücke, die er zum Teil auswendig kennt. Danach packt er sein Instrument ein und sagt: „So, das wars.“

ABSCHIED IM KREISE SEINER FRAUEN

Einige Wochen später fliegen Frauke und ihr Mann in den Süden zu ihrer Tochter. Auch ihre anderen Töchter reisen an. Er schläft kaum, will weder essen noch trinken. Auch einen Tropf verweigert er. Ein Arzt wird geholt der rät, sämtliche Medikamente abzusetzen.

„Seine Frauen“ bleiben die ganze Zeit an seiner Seite. Sie bügeln, kochen und reden. Eine liegt immer ganz nah bei ihm. Dann wird er noch einmal völlig klar, spricht alle mit ihren Namen an. Sie verabschieden sich. Zwei Tage später hört er auf zu atmen. Seine Frau und seine Töchter kleiden ihn an und schmücken sein Bett mit Blumen. Als sie seine Asche aus dem Krematorium holen, ist der sonst um diese Jahreszeit immer blaue Himmel voller weißer Schäfchenwolken.

Die Urne wurde vor etwas mehr als einem Jahr neben dem Grab von Fraukes Mutter beigesetzt. Seitdem lebt Frauke allein – zum ersten Mal in ihrem Leben. „Das ist traurig und schmerzt in der Brust – aber es ist auch eine Befreiung“, sagt sie heute. Und so richtig allein ist sie eigentlich selten. Meistens ist eins ihrer Kinder da. Oder mehrere gleichzeitig.

Dieser Beitrag wurde am 3. November 2020 veröffentlicht. Entstanden ist er bereits 2017. Im Jahr 2019 gab es eine weitere große Veränderung in Fraukes Leben: Sie verkaufte ihr Haus, zog weg aus Norddeutschland – und hat nun wirklich ihren eigenen Weg gefunden.

 

 

 

 

 

 

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6 Kommentare

  1. Suniti sagt:

    Ein sehr berührender und schön geschriebener Beitrag ?

  2. Chris sagt:

    Ein sehr offen und ehrlicher Artikel über ein Thema welches so schwer an einem nagen kann. Danke für die tollen Worte. Befinde mich grade auch in einer problematischen Pflegesituation mit Angehörigen und es tut gut Erfahrungsberichte bzw Erlebnisse anderer zu dem Thema zu lesen. Liebe Grüße Chris

    • Kati sagt:

      Hallo Chris, vielen Dank für deine Rückmeldung. Ich freue mich sehr, wenn ich mit meinen Blog-Beiträgen anderen Menschen Mut machen kann. Alles Gute für dich und viel Kraft!

  3. Tim sagt:

    Hallo Kati, sehr toller aber auch trauriger Beitrag, der bei jedem Menschen, der Berührungspunkte zur Pflege in der eigenen Familie hat, den Atem anhalten lässt.
    „LEBENSQUALITÄT PFLEGENDER ANGEHÖRIGER – WIE ES MIR GEHT, IST EGAL“. Dieses Zitat trifft es sehr auf dem Punkt. Auch in meiner Familie kümmern wir uns um die Pflege und man tut, was man kann, auch wenn man sich manchmal mehr Lebensqualität zurück wünscht. Umso schöner ist es zu lesen, wie andere mit der Situation umgehen und mutig sind, dies zu teilen. Mich selber hat die private Pflegesituation dazu bewegt, pflegenden Angehörigen in ähnlicher Situation bei der Pflege-Bürokratie zu entlasten, in dem ich die Ansprüche für mehr finanzielle Unterstützung prüfe. https://mehrpflegegeld.de
    Vielleicht auch eine Hilfe für viele Mitmenschen, die etwas mehr entlastet werden wollen.
    Liebe Grüße und Danke für deine tolles Engagement, Tim

  4. Magda sagt:

    Hallo Kati,
    vielen Dank für diesen schönen und emotionalen Beitrag.
    Ein sehr wichtiges Thema!
    Ich befasse mich zurzeit viel mit dem Thema und dein Artikel war sehr aufschlussreich.
    Liebe Grüße Magda

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