Hamburg – Mist! Der Automat will mein Geld nicht. Fluchend stehe ich vor dem Eingang zum Alten Elbtunnel bei den St. Pauli Landungsbrücken und krame in meiner Geldbörse. Ein Tunnelwärter kommt dazu und bittet mich, es noch einmal zu versuchen, ansonsten würde er mich so durchlassen. Das scheint zu wirken, für meine letzten Kleingeldreserven erhalte ich einen Passierschein. Mit meinem Twingo rolle ich in den hölzernen Auto-Aufzug, der uns hinunter bringt.
Eigentlich ist so eine Fahrt durch den 1911 erbauten St. Pauli Elbtunnel immer ein tolles Erlebnis – doch heute habe ich es eilig. Um 10 Uhr will ich Dogus treffen, den Unternehmensentwickler eines ambulanten Gesundheits-und Pflegedienstes im Hamburger Süden. Mit einigen Minuten Verspätung komme ich in der Geschäftsstelle an. Eine Mitarbeiterin – Dogus Tante, wie ich später erfahre, die als Bürokauffrau auch im Team mitarbeitet – bittet mich um ein wenig Geduld, er musste dringend nochmal weg. Glück gehabt!
In Dogus Job sind spontane Einsätze nicht ungewöhnlich. Er arbeitet im Familienbetrieb seiner Mutter Leyla, die eine der ersten Krankenschwestern mit türkischen Wurzeln in Hamburg war. Früh stellte sie fest, dass es bei der Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund oft an kulturellem Feingefühl fehlt. 1998 gründete sie den Multi-Kulti Pflegedienst in dem Einwandererstadtteil Wilhelmsburg. Mittlerweile versorgen mehr als 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 15 Sprachen hunderte hilfsbedürftige Menschen unterschiedlicher Herkunft im medizinisch-pflegerischen Bereich.
Lange muss ich nicht auf Dogus warten. Zusammen machen wir uns auf den Weg, zum „Veringeck“, einem blau-weiß gemusterten Neubau ein Stück die Straße runter. Darin befinden sich eine Demenz-WG für Menschen aus dem Herkunftsland Türkei, 18 ein- bis Zweizimmerwohnungen, die im Rahmen von betreutem Wohnen vermietet sind und vom Multi-Kulti Gesundheits-und Pflegedienst ambulant versorgt werden, sowie eine multinationale Tagespflege. In letztere bringt mich Dogus, da ich hier heute hospitiere.
Ich bin nicht die einzige Besucherin – eine Kita ist ebenfalls da. Die Jungen und Mädchen tollen fröhlich auf und unter einem bunten Tuch herum, das ihre Erzieherinnen zusammen mit einigen Tagespflegegästen für sie schwingen. „Die kommen einmal die Woche zu Besuch“, erklärt mir Stefan, der Leiter der Tagespflege.
Wir setzen uns in sein Büro, trinken Kaffee und Stefan erzählt mir seine Geschichte. Der examinierte Krankenpfleger hat lange und gern in der Chirurgie einer benachbarten Klinik gearbeitet – und ist dann in die Tagespflege gewechselt. „Im Krankenhaus war alles so eng getaktet – mir blieben nicht mal fünf Minuten, um mit den Patienten zu reden.“ In der Tagespflege hat der dreifache Vater nun nicht nur feste Arbeitszeiten. „Ich habe auch wirklich Zeit für die Gäste – zum Beispiel, um aus der Zeitung vorzulesen oder bei schönem Wetter gemeinsam im Garten zu sitzen“, sagt er.
Da rund die Hälfte der 20 Gäste, die sich die zwölf Tagespflegeplätze teilen, aus der Türkei stammt, liegt auf dem Tisch sowohl die türkische Tageszeitung Hürriyet, als auch die Hamburger Morgenpost. Stefan und seine Stellvertreterin Stephanie sprechen kein Türkisch, aber die Köchin Sevilay und die Betreuerin Birgul. „Als die beiden in den Sommerferien im Urlaub waren, war das anfangs schon schwierig – aber nach einiger Zeit haben wir gemerkt, dass die meisten ganz gut Deutsch sprechen, wenn sie es müssen“, sagt Stefan.
Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich Grüppchen bilden. Beim Mittagessen, das alle gemeinsam zu sich nehmen, lassen sich an einem Ende der Tafel fünf Frauen mit Kopftuch und die Betreuerin Birgul ihr Gulasch schmecken. Am anderen, wo ich neben der stellvertretenden Leitung Stephanie Platz nehme, sitzt ein stiller türkischer Herr zwischen vier deutschsprachigen Tagesgästen. Das Essen ist wie jeden Tag frisch gekocht. „Klassische Hausmannskost und türkische Speisen gibt es bei uns im Wechsel“, erklärt Stefan.
Nach dem Mittag gehe ich raus auf die Terrasse und begegne dort Uwe. Der 61-Jährige sitzt im Rollstuhl, weil ihm ein Bein amputiert wurde. „Raucherbein“ erzählt er mir zwischen zwei Zigaretten. Da seine Wohnung nicht barrierefrei war, verließ er sie nach der Operation ein halbes Jahr nicht mehr. Als er dann einen Platz im betreuten Wohnen im Veringeck bekam, war das für ihn eine Erlösung. Jetzt kommt er mehrmals am Tag auf einen Kaffee in die Tagespflege oder klönt und raucht auf der Terrasse mit Mitarbeitern und Gästen.
Ich gehe wieder rein und setze mich zu einer Gruppe Frauen in den geräumigen Aufenthaltsraum neben der offenen Wohnküche. An der Wand entspannen sich fünf Tagespflegegäste in Liegesesseln, im Fernsehen laufen türkische Serien. Neben mir sitzt Elfriede, die erst seit kurzem in die Tagespflege kommt. Die Idee hatte ihre Tochter, damit sie nicht so viel allein ist. „Zuerst dachte ich, sie will mich abschieben und war richtig schockiert und wütend“, sagt Elfriede. „Doch jetzt gefällt es mir hier so gut, dass ich mich neulich sogar bei ihr entschuldigt habe.“ Die 83-Jährige hat ihr ganzes Leben in Wilhelmsburg verbracht – und in der Tagespflege schon zwei alte Bekannte wiedergetroffen.
Gern würde ich auch mit den türkischstämmigen Tagespflegegästen ins Gespräch kommen. Doch ich bin unsicher, weiß nicht, wie ich mich verständigen soll. „So wichtig ist die Sprache gar nicht“, sagt Wahida, die auch mit am Tisch sitzt. Heute ist der letzten Tag ihres Praktikums, das sie für ihre Ausbildung zur Alltagsbegleiterin absolvieren muss. Die gebürtige Afghanin beherrscht Deutsch – aber kein Türkisch. Die Kommunikation mit den türkischsprachigen Gästen gelingt ihr trotzdem – durch Mimik, Gestik und Berührungen.
Ich bin nicht so vertraut wie sie mit den Tagespflegegästen. ,Vielleicht ist es ihnen unangenehm, wenn ich auf Deutsch Fragen stelle, die sie womöglich nicht verstehen?‘, sorge ich mich. Ich versuche mich schon damit abzufinden, dass es für mich heute eher nicht zu einem Multikulti-Austausch kommt, da spricht mich eine hell gekleidete Dame mit geblümtem Kopftuch an. Mit türkischem Akzent bittet sie mich, ihr einen Teller mit Kuchen zu reichen.
Wir kommen ins Gespräch. Sie heißt Elmas und sagt, dass sie 75 Jahre alt ist. Die Mutter von sieben Kindern ist ihrem verstorbenen Mann 1971 nach Deutschland gefolgt. Ich mache mir eifrig Notizen, was sie sehr beeindruckt. „Ich bin nie zur Schule gegangen und kann weder lesen noch schreiben“, berichtet sie. In der Tagespflege gefällt es Elmas sehr gut. „Wir machen Sport, spielen und das Essen ist lecker.“ Ich erinnere mich, dass sie beim Mittag ein Fläschchen Maggi neben ihrem Teller stehen hatte, das sie sich Pflegerin Stephanie zufolge in jedes Essen mischt – ein Zeichen gelungener Integration?
Als ich mich grade verabschieden will, kommt Elmas Tochter Refika und fragt mich, was ich hier mache. Ich habe schon die Befürchtung, sie möchte nicht, dass ich über ihre Mutter schreibe. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: „Sie ist eine so aufgeschlossene, lebenslustige Frau – ich finde es schön, dass sich dafür jemand interessiert“, sagt sie. Als ich die beiden zusammen fotografieren will, wechselt Elmas vorher ihr Kopftuch gegen eins mit Perlen und glitzernden Pailletten, das sie in der Tasche hat. Überhaupt ist sie sehr elegant, trägt reichlich Schmuck und überwiegend weiße Kleidung. „Das hat ihr hier im Stadtteil den Spitznamen Beyaz Melek eingebracht, was soviel bedeutet wie weißer Engel“, erzählt Refika.
Elmas genießt es, in der Tagespflege unter Leute zu kommen und sich auch mal auf Deutsch zu unterhalten. Ihre Nachbarn sollen trotzdem lieber nicht wissen, dass sie professionelle Pflegeleistungen in Anspruch nimmt. „Bei den Türken ist das sehr verpönt – denn die Pflege der Eltern ist traditionell die Aufgabe ihrer Kinder“, erklärt Refika.
Wir unterhalten uns angeregt und gehören schließlich zu den letzten Gästen der Tagespflege. Stefan schließt hinter uns ab, er muss noch einen Herrn nach Hause fahren. Refika und Elmas gehen los, sie wollen sich einen schönen Mutter-Tochter-Nachmittag machen. Und für mich heißt es: zurück auf die andere Seite der Elbe. Dieses Mal nehme ich aber die Brücke – die ist zwar bestimmt voller als der Tunnel, aber wenigstens gibt es dort keine störrischen Automaten.
Dieser Artikel wurde am 11. November 2017 veröffentlicht
Seit mehr als 19 Jahren gibt es den Multi-Kulti Gesundheits- und Pflegedienst in Hamburg-Wilhelmsburg. Das Angebot umfasst interkulturelles Betreutes Wohnen in eigenen Wohnungen, eine Wohn- und Pflegegemeinschaft für Menschen türkischer Herkunft mit Demenz, ambulante Pflege vor Ort sowie eine multinationale Tagespflegestätte „Unser kultursensibles Wohn- und Versorgungsangebot, ermöglicht das Zusammenleben von Personen deutscher und ausländischer Herkunft mit einem unterschiedlichen ambulanten Hilfsbedarf, die wir im medizinisch-pflegerischen Bereich unterstützen. Damit treffen wir den Nerv der Zeit.“, sagt Dogus, Unternehmensentwickler und Sohn der Gründerin Leyla.
Mehr Informationen findet ihr hier
4 Kommentare
Informationen und Beitragslänge sehr gut. Hat sich gut gelesen.Gefällt mir. Weiter so. L.G.
Vielen Dank!
Sehr gut geschrieben. Gerne gelesen und viele Informationen bekommen. Vielen Dank…
Danke für das berührte Thema, denn heute treten die Interessen der Nationen aktiv auf die Bühne. Schön, wenn die durchschnittlichen Menschen einander besser verstehen könne, wie es bei unserer Oma der Fall ist. Sie hat sich bei der Pflege ambulante Hilfe gefunden, sowie auch ein ausgewogenes Menü https://www.seniorenpflege-birkholz.de/ambulante-pflege Nette Menschen ringsum hat ihr geholfen, sich an alltägliche Probleme in ihrem Alter zu gewöhnen und sie erfolgreich lösen. Danke herzlich für Verständnis!