Drei Tage später treffe ich Helga wieder. Zuerst trinken wir zusammen Kaffee, dann schiebe ich sie auf ihr Zimmer, damit wir uns ungestört unterhalten können. Die 83-Jährige sitzt im Rollstuhl, da sie nach sieben Schlaganfällen und einer Spinalstenose nur noch unter großer Anstrengung laufen kann. Ein gebrochener erster Lendenwirbel ist zudem Schuld daran, dass es ihr nicht mehr aus eigener Kraft gelingt, aufzustehen und sich beispielsweise in einen Sessel zu setzen. „Das Schlimmste daran ist, dass man so abhängig von anderen ist“, sagt Helga.
Manchmal holt ihr Sohn sie in ihrem heiß geliebten Auto ab und fährt mit ihr nach Hause. Wenn sie dann dort für einige Stunden auf der Terrasse sitzt, stellt sie sich vor wie es wäre, wenn sie bleiben oder vielleicht nochmal selbst eine Runde in dem Mercedes drehen könnte. Ganz besonders vermisst sie aber ihren Mann. Der 91-Jährige ist an Demenz erkrankt und wird vom Sohn zuhause gepflegt. Ich frage, warum er nicht zu ihr ins Pflegeheim zieht. „Vor der Vorstellung graut ihm“, sagt Helga. Und da der Sohn berufstätig ist, und sich nicht um beide Eltern kümmern kann, leben sie nun getrennt.
Als traumatisch erlebte sie den Feuersturm im Jahr 1943. Nachbarn von ihr versuchten, vor den Flammen auf die Straße zu fliehen, blieben jedoch im geschmolzenen Asphalt stecken und verbrannten. „Ihre Schreie höre ich heute noch“, sagt Helga. Sie selbst hat Phosphorregen abbekommen, wodurch ihre Haut abblätterte, berichtet sie. Seither leide sie an einer Allergie gegen Weichmacher, die bei ihr sofort starken Juckreiz auslösen.
„Damals hatten wir noch keine Fahrräder, nur eine dicke Tasche voller Briefe und Kataloge vor den Bauch geschnallt“ sagt Helga. Mit der musste sie dann häufig bis ins vierte oder fünfte Stockwerk der alten Gründerzeit-Häuser hinauf steigen – das war sicher nicht gesund für ihren heute geschädigten Rücken. Die Arbeit bei der Post gefiel ihr trotzdem. „Wir haben auch die Rundfunkgebühren eingezogen“, erzählt sie. Dadurch wurde sie zwar nicht immer freundlich an der Haustür empfangen . Aber hinterher im Amt die Gelder zusammenrechnen – das hat ihr immer Spaß gemacht.
Darüber hinaus war sie im Rechnungswesen großer Einzelhandelsketten tätig, hat in Schulen sauber gemacht und arbeitete im Kiosk der Gefängnisse Neuengamme und Hahnöfersand. Ihre letzten Berufsjahre verbrachte Helga im Geschäftszimmer der Jugendgerichtshilfe, wo sie zwischen kriminell gewordenen Jugendlichen und den Institutionen, bei denen diese ihre Sozialstunden ableisten sollten, vermittelte. In ihrer Freizeit passte Helga gern auf die Kinder von Freunden und Verwandten auf, arrangierte Blumengestecke und hörte Musik. Eine große Leidenschaft von ihr war außerdem das Tanzen. Tango, Rumba, Cha-Cha-Cha: „Mit meinem Mann habe ich die goldene Tanznadel erreicht – mit Urkunde!“, berichtet sie stolz. Als er dann keine Lust mehr hatte, begann sie mit 70 noch einmal, Bauchtanz zu lernen.
Helgas Handy klingelt. Es ist ihr Mann. Mehrmals täglich ruft er sie an, will ihre Stimme hören und beteuert seine Liebe. „Und das nach fast 65 Jahren Ehe“, sagt Helga. Fast immer weint er. Das belastet sie sehr und bereitet ihr Schuldgefühle. „Wir haben so viel zusammen erlebt, und jetzt muss er sich sein Mittagessen selbst warmmachen“, sagt sie. Als ich mich von Helga verabschiede, bin ich tief berührt. Ich kann gleich in mein Auto steigen und fahren, wohin ich will, denke ich schuldbewusst. Doch auch Helga hat noch etwas Schönes vor. Wie jeden Abend trifft sie sich mit einigen anderen bei einem Bewohner, der ihnen aus der Geschichte „Nils Holgersson“ vorliest. Ich habe den Eindruck, sie macht das Beste aus ihrer Situation. Dieser Beitrag wurde am 28. Juni 2017 veröffentlicht
Mehr Informationen über das Tobias-Haus in Ahrensburg gibt es hier
Mit dem Alten- und Pflegeheim Tobias-Haus in Ahrensburg fühle ich mich besonders verbunden. Während meines pflegewissenschaftlichen Masterstudiums habe ich dort als Betreuerin gearbeitet, um den Alltag in einer Pflegeeinrichtung kennenzulernen. Seit Mai 2017 unterstütze ich das Haus bei der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Die Idee, Bewohner in meinem Blog zu porträtieren, hatte ich schon vorher und unabhängig von dieser Tätigkeit. Ich mache das, weil ich die Geschichten der Bewohner spannend und erzählenswert finde und werde dafür nicht bezahlt. Der Artikel über Helga spiegelt lediglich meine beziehungsweise ihre persönliche Sicht wider.
1 Kommentar
Was sind das nur für Kinder die ihre Eltern trennen. Keine von meinen Töchtern würde so etwas grausames machen.