pflegeheim nach schlaganfall

pflegeheim nach schlaganfall

Pflegeheim nach Schlaganfall

ROLLSTUHL STATT MERCEDES

Nach sieben Schlaganfällen lebt die 83-jährige Helga im Pflegeheim. Was sie vermisst? Ihren Mann – und ihr Auto

Ahrensburg – Mein erster Versuch, Helga zu interviewen, schlägt fehl. „Die ist um die Zeit immer bei einem anderen Bewohner auf dem Zimmer und spielt“, verrät mir die diensthabende Präsenzkraft, die in der Wohnküche den Kaffeetisch deckt. Ich lasse mir den Weg beschreiben und klopfe wenig später zaghaft an eine Tür. Ein älterer Herr öffnet mir und bittet mich herein. In dem hellen Zimmer mit bodentiefen Fenstern und Blick ins Grüne sitzen Helga und eine weitere Bewohnerin. Vor ihnen auf dem Tisch liegen, sorgfältig aneinandergereiht, dreieckige Spielsteine mit Zahlen drauf. „Tridomino – eine Erweiterung von Domino“, klärt man mich auf. Die drei haben sichtlich Spaß. Ich beeile mich, mit Helga einen Termin auszumachen und sie in Ruhe weiterspielen zu lassen.

Bei schönem Wetter spielen Helga (rechts) und ihre Mitbewohnerin am liebsten im Garten des Pflegeheims

Drei Tage später treffe ich Helga wieder. Zuerst trinken wir zusammen Kaffee, dann schiebe ich sie auf ihr Zimmer, damit wir uns ungestört unterhalten können. Die 83-Jährige sitzt im Rollstuhl, da sie nach sieben Schlaganfällen und einer Spinalstenose nur noch unter großer Anstrengung laufen kann. Ein gebrochener erster Lendenwirbel ist zudem Schuld daran, dass es ihr nicht mehr aus eigener Kraft gelingt, aufzustehen und sich beispielsweise in einen Sessel zu setzen. „Das Schlimmste daran ist, dass man so abhängig von anderen ist“, sagt Helga.

LEBEN IM PFLEGEHEIM NACH SCHLAGANFALL

Seit rund zwei Jahren wohnt sie nun im Alten- und Pflegeheim Tobias-Haus in Ahrensburg. Sie hat sich mit der Situation arrangiert, neue Freunde gefunden, ist im Bewohnerbeirat aktiv. Dennoch plagt sie oft Heimweh. Sie sehnt sich nach ihrem Haus in Ammersbek mit ihrem Mercedes-Benz C180 in der Garage. „Den konnte ich viel besser fahren als heute den Rollstuhl“, so Helga.

Manchmal holt ihr Sohn sie in ihrem heiß geliebten Auto ab und fährt mit ihr nach Hause. Wenn sie dann dort für einige Stunden auf der Terrasse sitzt, stellt sie sich vor wie es wäre, wenn sie bleiben oder vielleicht nochmal selbst eine Runde in dem Mercedes drehen könnte.

Ganz besonders vermisst sie aber ihren Mann. Der 91-Jährige ist an Demenz erkrankt und wird vom Sohn zuhause gepflegt. Ich frage, warum er nicht zu ihr ins Pflegeheim zieht. „Vor der Vorstellung graut ihm“, sagt Helga. Und da der Sohn berufstätig ist, und sich nicht um beide Eltern kümmern kann, leben sie nun getrennt.

TRAUMATISCHE ERLEBNISSE IN DER KINDHEIT

Helga ist eine echte Hamburger Deern. Geboren 1934 in Altona, wohnte sie später in Langenhorn und Rahlstedt. Im Zweiten Weltkrieg erlebte sie die Luftangriffe auf die Hansestadt. „Wir hatten keinen Keller, sondern mussten in einem Fischgeschäft im Erdgeschoss unseres Hauses ausharren“, erzählt sie. „Ich habe immer meine Puppe und einen Teddy in einen Kopfkissenbezug gesteckt und mitgenommen.“ Einmal kam dort sogar eine Frau nieder und gebar einen Jungen – mitten im Krieg.

Als traumatisch erlebte sie den Feuersturm im Jahr 1943. Nachbarn von ihr versuchten, vor den Flammen auf die Straße zu fliehen, blieben jedoch im geschmolzenen Asphalt stecken und verbrannten. „Ihre Schreie höre ich heute noch“, sagt Helga. Sie selbst hat Phosphorregen abbekommen, wodurch ihre Haut abblätterte, berichtet sie. Seither leide sie an einer Allergie gegen Weichmacher, die bei ihr sofort starken Juckreiz auslösen.

BEWEGTES LEBEN, VIELE JOBS

Pflegeheim nach Schlaganfall

Von anderen abhängig zu sein fällt Helga schwer – früher war sie so stark

Nach dem Krieg besuchte Helga den Oberbau – eine spezielle Hamburger Schulform, auf die Volksschüler nach der sechsten Klasse wechselten, um einen Abschluss zu machen, der mit der mittleren Reife vergleichbar ist. Anschließend machte sie eine Ausbildung zur Bürogehilfin, arbeitete zunächst bei Schwarzkopf und dann bei einem Händler für Party- und Zauberbedarf. Später wechselte sie in ein Lippenstiftlabor, dann wurde sie Postbotin – zuständig für die Postleitzahl 19, Hamburg-Eimsbüttel.

„Damals hatten wir noch keine Fahrräder, nur eine dicke Tasche voller Briefe und Kataloge vor den Bauch geschnallt“ sagt Helga. Mit der musste sie dann häufig bis ins vierte oder fünfte Stockwerk der alten Gründerzeit-Häuser hinauf steigen – das war sicher nicht gesund für ihren heute geschädigten Rücken. Die Arbeit bei der Post gefiel ihr trotzdem. „Wir haben auch die Rundfunkgebühren eingezogen“, erzählt sie. Dadurch wurde sie zwar nicht immer freundlich an der Haustür empfangen . Aber hinterher im Amt die Gelder zusammenrechnen – das hat ihr immer Spaß gemacht.

EINE FRAU MIT VIELEN TALENTEN

1953 heiratete Helga. Ihre drei Kinder wurden 1956, 1962 und 1968 geboren. Bis auf kurze Unterbrechungen hat die dreifache Mutter trotzdem immer gearbeitet. Zu den zahlreichen Beschäftigungen, die sie im Laufe der Jahre annahm, gehörte auch der Verkauf von Reinigungsmitteln und Lockenwicklern. Um Letztere an die Frau zu bringen, klingelte sie, bewaffnet mit einem „schicken Kasten“ bei potenziellen Kundinnen an der Tür und bot an, ihnen eine Frisur zu legen. „Das konnte ich richtig gut“, sagt Helga.

Darüber hinaus war sie im Rechnungswesen großer Einzelhandelsketten tätig, hat in Schulen sauber gemacht und arbeitete im Kiosk der Gefängnisse Neuengamme und Hahnöfersand. Ihre letzten Berufsjahre verbrachte Helga im Geschäftszimmer der Jugendgerichtshilfe, wo sie zwischen kriminell gewordenen Jugendlichen und den Institutionen, bei denen diese ihre Sozialstunden ableisten sollten, vermittelte.

Ein Stück Heimat: Mit ihren Lieblingsgewürzen peppt Helga das Essen im Pflegeheim auf

In ihrer Freizeit passte Helga gern auf die Kinder von Freunden und Verwandten auf, arrangierte Blumengestecke und hörte Musik. Eine große Leidenschaft von ihr war außerdem das Tanzen. Tango, Rumba, Cha-Cha-Cha: „Mit meinem Mann habe ich die goldene Tanznadel erreicht – mit Urkunde!“, berichtet sie stolz. Als er dann keine Lust mehr hatte, begann sie mit 70 noch einmal, Bauchtanz zu lernen.

SEHNSUCHT NACH DEM PARTNER IM PFLEGEHEIM NACH SCHLAGANFALL

Helgas Handy klingelt. Es ist ihr Mann. Mehrmals täglich ruft er sie an, will ihre Stimme hören und beteuert seine Liebe. „Und das nach fast 65 Jahren Ehe“, sagt Helga. Fast immer weint er. Das belastet sie sehr und bereitet ihr Schuldgefühle. „Wir haben so viel zusammen erlebt, und jetzt muss er sich sein Mittagessen selbst warmmachen“, sagt sie.

Als ich mich von Helga verabschiede, bin ich tief berührt. Ich kann gleich in mein Auto steigen und fahren, wohin ich will, denke ich schuldbewusst. Doch auch Helga hat noch etwas Schönes vor. Wie jeden Abend trifft sie sich mit einigen anderen bei einem Bewohner, der ihnen aus der Geschichte „Nils Holgersson“ vorliest. Ich habe den Eindruck, sie macht das Beste aus ihrer Situation.

Dieser Beitrag wurde am 28. Juni 2017 veröffentlicht

Mehr Informationen über das Tobias-Haus in Ahrensburg gibt es hier

Anmerkung der Autorin

Mit dem Alten- und Pflegeheim Tobias-Haus in Ahrensburg fühle ich mich besonders verbunden. Während meines pflegewissenschaftlichen Masterstudiums habe ich dort als Betreuerin gearbeitet, um den Alltag in einer Pflegeeinrichtung kennenzulernen. Seit Mai 2017 unterstütze ich das Haus bei der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Die Idee, Bewohner in meinem Blog zu porträtieren, hatte ich schon vorher und unabhängig von dieser Tätigkeit. Ich mache das, weil ich die Geschichten der Bewohner spannend und erzählenswert finde und werde dafür nicht bezahlt. Der Artikel über Helga spiegelt lediglich meine beziehungsweise ihre persönliche Sicht wider.

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1 Kommentar

  1. MG sagt:

    Was sind das nur für Kinder die ihre Eltern trennen. Keine von meinen Töchtern würde so etwas grausames machen.

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