Ahrensburg – Wenn ich etwas Interessantes höre, schreibe ich es auf. Später muss ich dann zwar oft unzählige Blöcke durchforsten, um die Notiz wiederzufinden – freue mich aber, sie aufbewahrt zu haben. So war es mit einer Anekdote von Hildegard. Es ging um das Largo in der Oper Xerxes von Georg Friedrich Händel. „Das hat für mich eine ganz besondere Bedeutung, da ich einmal im Urlaub an einem See in Österreich saß und hörte, wie es auf der anderen Seite von einer Trompete gespielt wurde“, sagte Hildegard vor einigen Monaten zu mir.
Zum ersten Mal begegnet sind wir uns im Jahr 2014 im Alten- und Pflegeheim Tobias-Haus in Ahrensburg, in das Hildegard mit 104 Jahren zog, weil ihre Seh- und Hörkraft stark eingeschränkt waren. Bis dahin hatte sie noch allein im eigenen Haushalt gelebt – seit dem Tod ihres Mannes waren bereits mehr als 20 Jahre vergangen. Ich arbeitete zu der Zeit als Alltagsbegleiterin in der Einrichtung und war Hildegards Betreuerin. Manchmal, wenn ich abends nach Hause fuhr, nachdem wir wieder einmal lange geredet hatten, dachte ich bei mir: „Eigentlich ist es nicht richtig, dass ich dafür bezahlt werde, mit so einem tollen Menschen Zeit zu verbringen.“ Und so hielt ich den Kontakt auch dann weiter, als ich nicht mehr in dem Job arbeitete.
Als ich dann in diesem Jahr mit dem bloggen anfing, wollte ich unbedingt über Hildegard schreiben. Aber sie war kritisch. „Das interessiert doch keinen“, sagte sie mehr als einmal. Pflegeheim-Mitarbeiter, andere Bewohner und ich sahen das ganz anders. Wir hingen an ihren Lippen, wenn sie von früher berichtete. Mehr mir und den anderen zuliebe willigte sie schließlich ein, auf meinem Blog aus ihrem bewegten Leben erzählen.
Hildegard stammt aus Gransee in Brandenburg. Ihre Eltern hatten eine Bäckerei. Jahrgang 1910, erlebte sie beide Weltkriege. Während des zweiten arbeitete sie im Geschäft ihres Vaters. Ihr Ehemann war eingezogen und sie hatte zwei kleine Kinder: Die Tochter war 1937 geboren, der Sohn 1938. Die Menschen standen Schlange, um Brot zu kaufen. Sie selbst mussten nicht hungern, aber üppige Speisen gab es auch für die Bäckerfamilie nicht. Alles, was nur ein bisschen Fett enthielt, wurde durch den Fleischwolf gedreht und mit Kartoffelbrei gemischt. „Das hat geschmeckt“, sagt Hildegard und lacht.
Wir sitzen in der Wohnküche des Pflegeheims. Die Mitarbeiterin der Wohnküche und eine Pflegerin schalten sich ins Gespräch ein. Die Erzählungen haben bei ihnen Erinnerungen an Berichte ihrer Eltern geweckt. Hildegard fragt mich, wer da mit uns redet – sie kann nur noch die Farbe der Kittel wahrnehmen. Ich sage es ihr. Eine andere Pflegekraft mit Zettel und Stift kommt und will von Hildegard wissen, wie starke Schmerzen sie auf einer Skala von 1 bis 10 empfindet. „4“, sagt die 107-Jährige.
Wir wenden uns wieder der Vergangenheit zu. Kurz vor Ende des Krieges beschäftigte Hildegard und ihre Mitbürger vor allem eine Frage: Wer ist schneller, die Engländer oder die Russen? Sie hofften auf die Engländer, doch es waren die Russen, die Anfang Mai in Brandenburg einmarschierten. Die Menschen hatten vorgesorgt, alle Wertsachen waren vergraben. „Mein Vater händigte einem Russen nur eine alte Aufziehuhr aus – aber die wollte er nicht“, so Hildegard.
Die meisten Frauen flüchteten mit Handwagen. Doch Hildegard ist geblieben. Obwohl auch sie viel Schreckliches erlebt und so manches Mal gezittert hat, ist sie immer irgendwie durchgekommen.
Ihr Mann galt mehrere Jahre als vermisst. Eines Adventssonntags im Jahr 1946 klingelte es dann an der Tür ihres Elternhauses in Gransee. „Das ist ja Vati!“, rief die Tochter. Und er war es. Bei Aufräumarbeiten wurde der Heimkehrer dann von einer 20-Zentner-Bombe am Bein verletzt. „Man kann froh sein, dass wir hier im Augenblick eine verhältnismäßig ruhige Zeit haben“, sagt Hildegard.
Inzwischen hat sich ein anderer Bewohner zu uns gesellt, der Hildegard sehr nahe steht und sie oft dabei unterstützt, sich fortzubewegen. „Heute Nachmittag ist uns die Sonne wohl nicht treu – dabei hatte ich gedacht, wir könnten raus gehen“, sagt sie. Und er antwortet: „Sie sind ja zurzeit sehr sonnenhungrig.“ An einem anderen Tag habe ich die beiden auf der Terrasse getroffen, die Rollatoren hatten sie vor sich geparkt. Es war schon recht spät und er wollte rein, doch Hildegard verhandelte: „Noch zehn Minuten.“ „Das sagt sie immer“, erwiderte er und zuckte ratlos mit den Schultern.
Ich will von Hildegard wissen, wie sie aus der von den Sowjets besetzten Zone nach Hamburg gekommen ist. Sie berichtet, dass ihr Mann zunächst als Kaufmann in der 1948 gegründeten Handelsorganisation (vielen bekannt als HO) arbeitete, einem staatlichen Einzelhandelsunternehmen der DDR. Eines Tages gab es „Unstimmigkeiten“, wie sie es nennt, die vermutlich etwas damit zu tun hatten, dass er kein Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war. Er wurde überwacht und entschied schließlich, in den Westen zu gehen. Hildegard sollte mit, doch da ihre beiden Kinder noch in der Lehre waren, blieb sie vorerst. Als sich die Lage zuspitzte wurde ihr klar, dass sie, wenn sie nicht bald Gransee verließe, vermutlich überhaupt nicht mehr raus kommen würde.
Also versteckte sie ihre Wertsachen in einem Kinderwagen und fuhr mit einem Cousin per Eilzug nach Berlin. Als Polizisten skeptisch fragten, wo denn das Kind sei, antwortete sie schlagfertig: „Das holen wir ab.“ Nach einigen Tagen in Berlin, in denen sie vom Onkel in Neukölln und der Tante in Tempelhof hin- und herzog, reiste sie kurz vor Weihnachten 1955 per Flugzeug zu ihrem Mann nach Hamburg – und dieses Mal blieb sie.
Ihr Sohn begleitete sie und konnte seine im brandenburgischen Henningsdorf begonnene Lehre zum Elektriker bei Siemens in der Hansestadt fortsetzen. Die Tochter beendete ihre Ausbildung zur Erzieherin in Schwerin und folgte dann der Familie in nach Hamburg. Sie lebten zuerst in Altona und zogen später nach Langenhorn.
Auf der Suche nach einer Aufgabe sprach Hildegard in einer Bäckerei und Konditorei vor – wurde aber abgelehnt mit dem Argument man wüsste ja nicht, ob sie Torte schneiden könne. Später fand sie eine Anstellung in einem Geschäft, das Kaffee und Konfekt verkaufte. 14 Jahre arbeitete sie dort halbtags und bediente prominente Kunden wie Willi Fritsch.
Der Job machte ihr Spaß. Wenn der Chef im Urlaub war, übernahm sie die Leitung. „Als ob es mein eigener Laden wäre, hat er immer gesagt“, berichtet Hildegard. Er wollte sogar, dass sie ihn übernimmt, als er sich zur Ruhe setzte. Doch da lehnte sie dankend ab und ging im Alter von 70 Jahren selbst in den Ruhestand.
Sie greift nach einer kleinen Uhr, die sie um den Hals trägt, und drückt auf einen Knopf. „Es ist 16 Uhr 49“, sagt die Uhr. „Ach, so spät schon“, stellt Hildegard überrascht fest. Mithilfe eines Rollators macht sie sich auf den Weg in ihr Zimmer – sehr langsam, aber selbstständig. Ich begleite sie und will ihr einen schönen Abend wünschen. Doch so richtig können wir uns an diesem Tag nicht voneinander lösen. Sie bietet mir einen Stuhl an, wir reden noch ein bisschen. Hildegard berichtet von ihrer Kindheit, als ihr Vater manchmal eine Kutsche bestellte, mit der sie Verwandte besuchten. „Nachts liege ich oft stundenlang wach und dann fallen mir die alten Geschichten ein“, sagt sie.
Hildegard sitzt da in einer für sie typischen Haltung, mit gefalteten Händen im Schoß und wiegt den Oberkörper hin und her. Bevor wir uns verabschieden, fotografiere ich sie, weil sie im Abendlicht so schön aussieht. Es sollte das letzte Foto sein, das ich von ihr machen würde.
Am 26. August 2017 ist Hildegard im Alter von 107 Jahren gestorben. Bei der Trauerfeier in der Kapelle des Alten Friedhofs wurde unter anderem eine Aufnahme des Largo von Händel gespielt. Danach habe ich diesen Text Freunden und Familie vorgelesen – eine berührende Erfahrung. Ich bin dankbar, dass ich Hildegard kennenlernen und über sie schreiben durfte.
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Dieser Artikel wurde am 30. September 2017 veröffentlicht
Mit dem Alten- und Pflegeheim Tobias-Haus in Ahrensburg fühle ich mich besonders verbunden. Während meines pflegewissenschaftlichen Masterstudiums habe ich dort als Betreuerin gearbeitet, um den Alltag in einer Pflegeeinrichtung kennenzulernen. Seit Mai 2017 unterstütze ich das Haus bei der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Die Idee, Bewohner in meinem Blog zu porträtieren, hatte ich schon vorher und unabhängig von dieser Tätigkeit. Ich mache das, weil ich die Geschichten der Bewohner spannend und erzählenswert finde und werde dafür nicht bezahlt. Der Artikel über Hildegard spiegelt lediglich meine beziehungsweise ihre persönliche Sicht wider.
3 Kommentare
Das ist ja kaum zu glauben,dass jemand über die Tante Hilde aus Hamburg hier schreibt-unsere Tante Hilde!
Wir konnten es nur mit einem Kloss im Hals lesen,weil es uns so sehr berührt hat.Danke,liebe Kati
Carola und Hans-Jörg
gratuliere. in dieses pflegeheim möchte ich auch
Hallo Kati,
ich durfte sie bei der Trauerfeier kennenlernen und war sehr berührt, das sie über unsere Tante berichteten. Erst nach einer gewissen Zeit ist es mir möglich darüber zu schreiben und ihnen in aller Öffentlichkeit noch einmal danke zu sagen Für ihre weitere Arbeit wünsche ich ihnen alles Gute und vergessen sie die Menschen nicht, die oft im verborgenen Leben.
Danke für ihre Worte
Margret