Als ich etwa vierzig war, empfahl mir eine Ärztin anlässlich einer akuten Krankheit, einen Pillenschneider zu kaufen. Den könne ich ja dann im Alter auch gut gebrauchen. Ich fragte sie, warum sie automatisch davon ausgeht, dass ich im Alter krank sein und jede Menge Pillen schlucken werde. Das sei eben so, meinte sie. Als ich etwa fünfzig war, sprachen unterschiedliche Bekannte gleichen Alters davon, sich altersgerechte, also rollstuhlgängige oder treppenlose, Wohnungen zu kaufen. Ich fragte sie, warum sie automatisch davon ausgingen, dass sie im Alter nicht mehr laufen oder Treppen steigen könnten? Das sei eben so, meinten sie.
Unsere Gesellschaft scheint automatisch davon auszugehen, dass alte Menschen krank und gebrechlich sind. Aber das stimmt nicht. Pillenschneider, Rollator und Schnabeltasse sind kein unausweichliches Schicksal, sobald eine imaginäre Stoppuhr in Kopf und Hirn abgelaufen ist. Für mich sind diese stereotypen Vorstellungen vom Altern eher eine Art der selbsterfüllenden Prophezeiung – die dann leider oft auch wahr werden und uns genau so alt werden lassen, wie wir es erwarten.
Dass man sich auch jünger denken kann, zeigte unter anderem 1979 ein Experiment der amerikanischen Psychologin Ellen Langer. Eine Gruppe siebzig- bis achtzigjähriger Männer sollte sich vorstellen, sie seien zwanzig Jahre jünger. Zu diesem Zweck lebten sie eine Woche lang in entsprechend eingerichteten Räumen, lasen Zeitungen und sahen Filme und Nachrichten von vor zwanzig Jahren. Sie unterhielten sich über ihre beruflichen und familiären Lebensumstände, wie sie damals waren, und auch ihre Ausweise zeigten ihre jüngeren Fotos. Das Ergebnis: Nach nur einer Woche waren die Teilnehmer körperlich und geistig deutlich fitter und beweglicher als vorher, sie hatten an Gewicht zugenommen und waren durch eine „jüngere“ Körperhaltung auch wieder größer als vorher. Sogar ihre Gesichter wirkten jünger.
Bei der psycho-sozialen Entwicklung des Menschen denkt man immer zuerst an Babys, Kinder und Jugendliche, dann vielleicht noch an junge Erwachsene. Ab 60 entwickelt sich dann scheinbar gar nichts mehr – außer Krampfadern und andere Wehwehchen. Im Alter vermutet niemand Weiterentwicklung.
Auch der berühmte Psychoanalytiker Erik H. Erikson sah im Alter (ab 65) nur noch die Aufgabe, auf das eigene Leben zurückzublicken – in Zufriedenheit oder Verzweiflung. Das scheint mir für die lange Zeit ab 65 bis zum Ende doch ein bisschen gar wenig Lebensinhalt zu sein. Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung stammt aber auch aus 1950ern – damals war die Lebenserwartung noch viel geringer als heute. Es ist also an der Zeit, das Alter neu zu denken.
Glücklicherweise bin ich über das Buch von Gene Cohen gestolpert, einem Schüler Eriksons, der meiner positiven Interpretation des Alters näherkommt und im Alter gleich vier Phasen der psychologischen Reife definiert, die mit entsprechenden Entwicklungen im Gehirn einhergehen (siehe Info-Kasten unten).
Nach dem Motto „Use it or lose it“, was frei übersetzt bedeutet „Nutze deine Fähigkeiten oder du verlernst sie“ kann auch im alternden Gehirn eine stetige positive Entwicklung stattfinden. Neuronale Plastizität bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, den neue Nervenzellen und Verbindungen zu schaffen, um neu-gemachte Erfahrungen oder neu-gelerntes Wissen abzuspeichern. Die Zahl der Neuronen nimmt mit dem Alter zwar grundsätzlich ab, aber es wachsen ständig neue. Selbst im Gehirn gesunder 90-jähriger Menschen finden sich unreife, wachstumsbereite Nervenzellen. Ein Verlust an Gehirnfunktion hat somit wenig mit dem biologischen Lebensalter zu tun und mehr mit Verletzungen oder Krankheiten, wie zum Beispiel Alzheimer, Depression, Stress, einem ungesunden Lebensstil oder auch Langeweile – das haben neurologische Studien in den vergangenen 20 Jahren gezeigt.
Zudem haben wir im Alter den Vorteil, dass unsere Gehirne Informationen anders verarbeiten: beide Hirnhälften werden eingesetzt, wo bei jungen Menschen vor allem die linke Hälfte genutzt wird. Ja, wir denken vielleicht nicht mehr ganz so schnell und wir erinnern uns vielleicht nicht mehr an alles. Dafür haben wir eine umfassende Intelligenz entwickelt, die nicht nur unser gesammeltes Wissen, sondern auch unsere gesamte Lebenserfahrung, unsere emotionale und soziale Intelligenz einschließt und allgemein wohl das ist, was Weisheit genannt wird.
Gesellschaftliche Mythen programmieren uns auch heute noch dazu, das Alter zu fürchten. Wir sollten sie endlich überwinden und das Alter positiv erleben, um glücklich zu altern. Und das heißt: Neue Erfahrungen suchen und machen, aktiv bleiben, sich bewegen, gut schlafen, möglichst gesund leben – und zu genießen, was es zu genießen gibt.
Buch-Information: Gabriele Bryant: Alter Falter – wie ich alt werden möchte
ALLE WOLLEN MÖGLICHST ALT WERDEN, ABER NIEMAND WILL ALT SEIN. Mit diesem Buch versucht Gabriele Bryant, als Frau einen Weg ins Alter zu finden und lässt dabei auch weitere Frauen zu Wort kommen, die von ihren eigenen Erfahrungen und Hoffnungen berichten. Es ist einerseits eine Bestandsaufnahme und Situationsanalyse, andererseits ein Manifest für einen humorvollen, hoffnungsvollen und gleichzeitig ehrlichen Umgang mit dem eigenen Alt-Werden. Gabriele Bryant schreibt persönlich und schonungslos über ihre Erfahrungen, Probleme und Sichtweise ― für sich selbst, aber auch für andere Frauen, die gern ein wenig Orientierung hätten. 104 Seiten, erhältlich als gebundenes Buch, Taschenbuch und eBook
Dieser Artikel wurde am 25. Dezember 2022 veröffentlicht.
Titelbild: Ravi Patel / Unsplash
Im Gehirn wird durch eine Erweiterung des Corpus Callosum die Verbindung beider Hirnhälften verstärkt. Das resultiert in mehr Ausgewogenheit zwischen analytischem und intuitivem Denken und einer höheren Produktivität. Man wird sich der eigenen Sterblichkeit bewusst und überlegt, was man mit dem Leben anfangen möchte. In diese Zeit fallen viele Veränderungen und Neuanfänge. Man ist weniger impulsiv, mehr im Einklang mit den eigenen Gefühlen und offener für die Komplexität des Lebens.
Im Hippocampus wachsen immer noch neue Neuronen und es wächst die Lust, noch einmal etwas ganz Neues zu erleben. Es ist Zeit, endlich das zu tun, was man schon immer tun wollte: Wann, wenn nicht jetzt?
Man blickt zurück auf das Leben und versucht, einen Sinn darin zu erkennen. Fotoalben werden erstellt, Memoiren geschrieben und viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich, um etwas zurückzugeben.
Manche intellektuelle Funktionen lassen nach, aber dennoch wachsen weiterhin ständig neue Nervenzellen im Gehirn, besonders wenn diese Neurogenese durch entsprechende physische und mentale Aktivität gefördert wird. Nicht nur bleibt das Lernen lebenslang möglich, die Lebenserfahrung gibt dem Denken zugleich eine neue Tiefe. Auch diese Phase dient dem Rückblick, gleichzeitig wächst die Zufriedenheit und die psychologische Resilienz, um mit den Schwierigkeiten des Alters umzugehen.
1 Kommentar
Mit großer Freude habe ich Gabrieles Buch über das Alter gelesen, das so positiv und lebensbejahend ist, wie ich es selbst täglich erlebe. Mit 60 Jahren fühle ich mich wahrhaftig in der Blüte meines Lebens, voller Energie, Glück und Dankbarkeit. Ihr Artikel hat mir aus der Seele gesprochen und ich wollte meine Freude mit Ihnen teilen.
Es stimmt, dass man im Alter glücklicher und gesünder sein kann, als man vielleicht in jüngeren Jahren war. Ich selbst bin ein lebendes Beispiel dafür. In meinen Zwanzigern und während meiner Karriere als Buchhalterin fühlte ich mich oft festgefahren und dem Stress ausgesetzt. Es war ein konstantes Rennen gegen die Zeit, das einen enormen Druck auf meine Schultern legte.
Jetzt, da mein Mann und ich in Rente sind, haben wir unseren Lebenstraum verwirklicht. Wir haben unsere Wohnung verkauft und sind mit unserem Wohnwagen aufgebrochen, um die Welt zu erkunden. Unsere Tage sind gefüllt mit Entdeckungen, Freiheit und Abenteuern, die unsere Herzen mit unermesslicher Freude erfüllen. Endlich können wir all die Länder bereisen, die auf unserer Wunschliste standen, ohne uns Sorgen um die Zeit zu machen. Das Gefühl von Druck und Stress ist verschwunden, wir leben im Hier und Jetzt.
Natürlich ist das Reisen mit einem Wohnmobil nicht immer einfach und bringt seine eigenen Herausforderungen mit sich. Kürzlich hatten wir eine kleine Panne, bei der wir beinahe umgekippt wären, weil wir das Gewicht und den Druck beim Beladen unterschätzt hatten. Aber mit jeder Erfahrung lernen wir dazu und sind gewappnet für die nächsten Abenteuer. Dank unserer neuen Radlastwaage sind solche Probleme hoffentlich Vergangenheit.
Ich hoffe von Herzen, dass wir noch viele weitere Jahre auf diese Weise reisen können, unser Leben in vollen Zügen genießen und jeden Tag als Geschenk betrachten. Danke für Ihren inspirierenden Artikel, der genau diese positive Einstellung zum Alter vermittelt.
Mit freundlichen Grüßen,
Ursula Kleinhans