Ahrensburg – Mit Stecknadeln an eine Stellwand gepinnt, hängen sie in der Wohnküche des Tobias-Hauses: Aquarellzeichnungen einer Amaryllis, von der Knospe bis zur üppigen Blüte. Es sind die Werke von Jürgen, einem 93-jährigen Bewohner des Pflegeheims.
Tatsächlich ist Jürgen nicht irgendein, sondern ein ganz besonderer Bewohner. Vor etwas mehr als 40 Jahren hat er nämlich das Tobias-Haus entworfen und den Bau begleitet – als Architekt.
Im Gegensatz zu heute haben Architekten früher noch alles gemacht: vom Entwurf über die Zeichnung bis hin zur Begleitung der baulichen Umsetzung. Dabei war die Arbeit an dem anthroposophisch ausgerichteten Pflegeheim für Jürgen alles andere als lukrativ. „Das war nicht zum Geldverdienen geeignet“, sagt er und deutet an, dass er bei dem Bau sehr viele Interessen berücksichtigen und sich mit zahlreichen Menschen auseinandersetzen musste, was Zeit kostete.
Doch für Jürgen war das Tobias-Haus eine Herzensangelegenheit. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen: Typisch für die von der Anthroposophie beeinflusste Architektur weist das Gebäude asymmetrische und organische Formen wie die Natur auf und hat im Inneren einige der berühmten „runden Ecken“. Vor allem erzeugt es aber eine offene, dem Menschen zugewandte Atmosphäre (und das schreibe ich nicht nur, weil ich auch für das Tobias-Haus arbeite und mich dem Pflegeheim sehr verbunden fühle).
Dass Jürgen mal hierher ziehen würde, war eigentlich nicht geplant. Doch als seine Frau an Parkinson erkrankte, ließ sich das Ehepaar auf die Warteliste für eine der vier Zweizimmerwohnungen setzen, die es in dem Heim gibt. Dabei wurden sie nicht bevorzugt, weil Jürgen der Architekt des Pflegeheims ist, sondern warteten, wie alle anderen auch, bis sie an die Reihe kamen.
2012 war es soweit und nachdem Jürgens Frau 2015 verstarb, entschied er sich, in dem Pflegeheim wohnen zu bleiben. Zwar hat er keinen Pflegegrad, aber „jetzt auf einmal anfangen, für mich zu kochen und so ein Tüddelkram – das konnte ich mir nicht vorstellen“, sagt er.
Heute hat Jürgen in dem Pflegeheim viel Raum, um seinen kreativen Hobbies zu frönen. Neben Zeichnungen gestaltet er auch kleine Büchlein mit Geschichten und Zungenbrechern für seine Enkel und für den Verkauf beim herbstlichen Basar des Hauses. Außerdem singt er, beschäftigt sich in der „Grünen Stunde“ einer Gartentherapeutin mit Pflanzen und tauscht sich mit anderen Bewohnern über „Denkanstöße“ aus, die er selbst vorbereitet.
Dieser Beitrag wurde am 16. April 2019 veröffentlicht.
1925 in der Frauenklinik Finkenau geboren, wuchs Jürgen in Berne als Sohn eines Beamten und einer Lehrerin auf. Im Krieg kämpfte er in Polen, Flandern, Italien und Österreich, dann kam er in Regensburg in amerikanische Gefangenschaft.
Nach dem Krieg machte er eine Zimmererlehre und absolvierte danach eine Bauschule, wo er einen Ingenieur für Architektur machte (ein Diplom konnte man zu der Zeit in Hamburg noch nicht erwerben). Danach ging er für ein dreiviertel Jahr auf Wanderschaft. „Bis ich zu mir selbst gefunden habe“, sagt Jürgen.
In Berne eröffnete er sein Architekturbüro und baute sein eigenes Haus, in dem er mit seiner Frau in der Zeit von 1954 bis 1975 acht Kinder bekam – vier Jungs und vier Mädchen.
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