LSBTI-sensible Pflege

Eva (92) zog nach dem Tod ihrer Partnerin ins Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg. Rechts: Heimleiter Ralf Schäfer

LSBTI-sensible Pflege

DISKRIMINIERUNG IST HIER TABU

Schwul, lesbisch oder trans* – das Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg ist ein Ort, an dem sexuelle und geschlechtliche Vielfalt gelebt wird. Ich habe mich gefragt, was das konkret bedeutet – und mir die Berliner Pflegeeinrichtung angeschaut.

Ahrensburg – Brauchen wir Pflegeheime für Schwule? Diese Frage stellte ich vor rund zwei Jahren in meinem Blog-Beitrag über Hans aus Hamburg, der Männer liebt. Damals kamen Hans und ich zu dem Schluss, dass Pflege-Einrichtungen speziell für homosexuelle Menschen keine Lösung sind. Stattdessen müsste es in allen Pflegeheimen möglich sein, offen schwul zu leben.

Doch die Realität sieht leider häufig anders aus. „Mich haben schon Hilferufe von pflegebedürftigen Menschen oder deren An- und Zugehörigen erreicht, weil sie in Pflegeeinrichtungen diskriminiert werden – zum Beispiel als ,schwule Sau’“, sagt Ralf Schäfer. Der examinierte Altenpfleger leitet das Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg in Berlin – das erste Pflegeheim in Deutschland, das mit dem Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt ausgezeichnet wurde.

LSBTI-sensible Pflege

Lebensort Vielfalt: Das Immanuel Seniorenzentrum wurde für die Inklusion sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ausgezeichnet

DIVERSITÄTSSENSIBLE PFLEGE

Das Zertifikat stellt sicher, dass die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt der Bewohner und Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung unterstützt wird. Entwickelt hat es die Schwulenberatung Berlin gemeinsam mit Menschen aus der LSBTI-Community. LSBTI ist eine Abkürzung und steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle.

Die 120 Kriterien des Siegels reichen von einer gender-sensiblen Sprache im Pflegealltag und in personenbezogenen Dokumenten über geschlechtsneutrale Toiletten bis hin zu Pflegefachpersonen mit besonderen Kenntnissen zur Versorgung von Menschen mit AIDS oder HIV. Auch eine spezifische Biografiearbeit, die auf die Erfahrungen vieler älterer LSBTI-Menschen mit Heimlichtuerei, Diskriminierung, schwierigen Coming-outs und sogar Strafverfolgung eingeht, ist Teil einer diversitätssensiblen Pflege.

Wer es ganz genau wissen oder prüfen will, ob ein anderes Pflegeheim die Vorgaben (ganz oder teilweise) erfüllt, kann sich beim Diversity-Check der Schwulenberatung Berlin einen Überblick verschaffen.

LSBTI-SENSIBLE PFLEGE – EINE FRAGE DER HALTUNG

Neben den äußeren Bedingungen kommt es bei der LSBTI-sensiblen Pflege aber vor allem auf die Haltung an – und zwar die der Bewohner und Mitarbeiter ebenso wie die der Kooperationspartner wie Frisöre, Reinigungskräfte oder Bäcker. „Es geht darum, dass jeder so leben kann, wie er sich fühlt“, bringt Heimleiter Ralf Schäfer es auf den Punkt.

Einen Eindruck davon erhalte ich, als wir die Bewohnerin Eva auf ihrem Zimmer besuchen. Eva ist lesbisch, an der Wand hängt ein Foto von ihrer Partnerin, mit der sie 25 Jahre zusammen war. „Vor zwei Jahren ist sie gestorben, jetzt bin ich hier gut versorgt“, sagt Eva. Die 92-Jährige engagiert sich seit vielen Jahren in dem Verein SAFIA (Selbsthilfe Alleinlebender Frauen Im Alter). Da sie nicht mehr mobil genug ist, um zu den Treffen zu gehen, kam kürzlich eine Gruppe Frauen ins Seniorenzentrum, und hielt ihr Treffen dort ab, damit Eva dabei sein konnte. „Das war lustig“, sagt die alte Dame.

LSBTI-sensible Pflege

Michael entdeckte im Pflegeheim seiner Leidenschaft fürs Malen – und hat seine Werke dort sogar schon ausgestellt

LAUTE ROCKMUSIK HÖREN – AUCH DAS IST DIVERS

Michael wohnt ein Stockwerk unter Eva. Er ist heterosexuell, aber nachdem er viele Jahre in dem für seinen „Regenbogenkiez“ bekannten Berliner Stadtteil Schöneberg gelebt hat, kann er sich ein Leben ohne Toleranz gegenüber Menschen, deren sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht, überhaupt nicht mehr vorstellen.

Mit 63 Jahren einer der jüngsten Bewohner des Seniorenzentrums, gehört Michael zudem einer neuen Generation von Senioren an, die ohnehin den starken Wunsch danach verspürt, auch im Alter Individualität und Diversität auszuleben. „Ich kann hier meinen Hobbies nachgehen – zum Beispiel laute Rockmusik hören“, sagt er und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: „Viele meiner Zimmernachbarn hören ja sowieso nicht mehr so gut.“ Außerdem engagiert er sich im Heimbeirat, hat in dem Pflegeheim seine Leidenschaft fürs Malen entdeckt und geht begeistert zum Snoezelen – einem besonderen Angebot, bei dem Musik und bunte Lichter für Entspannung sorgen. Eine Partnerin hat Michael zurzeit nicht, aber wenn er jemanden kennenlernen würde, wäre auch Damenbesuch auf seinem Zimmer kein Problem, versichert er.

UNTERSTÜTZUNG BEI DER TRANSITION

Auch Unterstützung im Transitionsprozess für Bewohner und Mitarbeiter ist Teil des Konzepts der Berliner Pflegeeinrichtung. Transition bezeichnet hier soziale, körperliche oder juristische Änderungen die Trans*Menschen vornehmen, weil sie sich mit einem anderen Geschlecht identifizieren als dem, das ihnen bei der Geburt zugeordnet wurde.

LSBTI-sensible Pflege Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg

LSBTI-Menschen willkommen: Ein Regenbogen ziert das Fenster des Seniorenzentrums Schöneberg

Ein Beispiel: Eine Mitarbeiterin fing im Immanuel Seniorenzentrum an, die sich als Frau fühlte, aber formaljuristisch noch ein Mann war. „Da haben wir sie im Dienstplan als Frau geführt – lediglich in offiziellen Dokumenten verwendeten wir bis zur offiziellen Geschlechtsangleichung die männliche Form“, so Ralf Schäfer. Nach Absprache mit den Kolleginnen konnte die Mitarbeiterin auch die Damenumkleide benutzen.

DIE „NEUEN ALTEN“ BRAUCHEN DIVERSE KONZEPTE

Ich bin mir sicher: Häuser wie das Immanuel Seniorenzentrum Schöneberg weisen den Weg hin zu einer modernen, ja zeitgemäßen Altenpflege. Denn unsere Gesellschaft verändert sich – und mit ihr auch die Senioren. Höchste Zeit also, dass sich auch die Pflegeheime auf die „neuen Alten“ einstellen, unter denen sich nicht nur offen homosexuell oder trans* lebende Menschen finden, sondern auch Hippies, Veganer, Punks und viele andere, die sicher nicht bereit sein werden, im Alter ihren gewohnten Lebensstil vollständig aufzugeben.

Stellt sich die Frage, ob ein „Lebensort Vielfalt“ auch in anderen Gegenden so gut funktionieren würde wie im alternativen Schöneberg. Der – christliche – Träger des Seniorenzentrums, die Immanuel Albertinen Diakonie, erwägt jedenfalls, das LSBTI-sensible Konzept in weiteren Häusern umzusetzen – unter anderem im ländlichen Raum Brandenburgs. Man darf also gespannt sein, wie es weitergeht.

Dieser Beitrag wurde am 10. Mai 2019 veröffentlicht.

Soll ich gendern?

Nach so viel Beschäftigung mit Diversität habe ich auch meine Sprache hier auf dem Blog nochmal hinterfragt. Ich gendere nicht, sondern benutze verallgemeinernd die männliche Form („Mitarbeiter“). Der Grund ist, dass ich irgendwann mal beschlossen habe, mich an den „großen“ Tageszeitungen zu orientieren. Aber wenn ich ehrlich bin, gibt es auch Dinge, die ich anders mache als die. Das Nennen meiner Protagonisten beim Vornamen zum Beispiel. Ist es also vielleicht doch nur Bequemlichkeit, dass ich nicht schreibe Mitarbeiter*innen? Würde es euch, liebe Leser, abschrecken, weil die Lesbarkeit leidet? Ich werde diesen Gedanken weiter selbstkritisch verfolgen, freue mich über konstruktives Feedback und halte euch auf dem Laufenden.

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5 Kommentare

  1. Nick sagt:

    Hi, vielen lieben Dank für diesen Artikel. Ich suche überall nach solchen States und Geschichten, da ich im Juni auf dem Kirchentag über LGBTTI im Alter, in der Pflege bei einer Podiumsdiskussion teilnehme..

  2. Adriana sagt:

    Hallo Kati,
    Ich persönlich finde es schön, wenn Texte gegendert sind. Es gibt ja verschiedene Varianten des Genderns, die auch unterschiedlich schön aussehen. Ich persönlich versuche immer neutrale Versionen wie Mitarbeitende zu wählen und ansonsten die *Variante.
    Wenn ich einen gegenderten Text sehe, empfinde ich es von der Person die ihn geschrieben hat, als sehr wertschätzend. Sprache schafft Realität und wenn es so leicht ist, alle Menschen einzubeziehen, dann ist das wunderbar.
    Ich verstehe, wenn Leute Gendern nicht schön finden oder stellenweise kompliziert (geht mir genauso). Aber ich freue mich und fühle mich auch immer ein Stück weit empowert wenn Menschen ihre Sprache gendern. :))
    Ich finde es toll, dass du dich damit auseinander setzt, ob du gendern möchtest. Viele Menschen winken es direkt ab, ohne sich näher damit zu beschäftigen, weil es zu viel neues ist und “wir haben das schon immer so gemacht” ^^
    Ich freue mich über die kommenden Artikel auf deinem Blog!
    Liebe Grüße

  3. kundai Chaka sagt:

    Voll cool. Wüsste nicht das es gibt solche Einrichtungen gibt. Ich bin bald examiniert und es freut mich das die Pflege sich so positiv weiter entwickelt.

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